Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
war ihm jedes Thema recht. Er wollte weder über das nachgrübeln, was er hinter sich hatte, noch über das, was vor ihm lag. »Der Nebel könnte aber auch ihr Entkommen decken«, erwiderte er deshalb. »Hat dieser Andersson ein Boot?«
Stig Lundgren nickte ein wenig irritiert. Er war jedoch zu höflich, um Raven zu erklären, wie überflüssig diese Frage hier draußen in den Schären war. »Natürlich. Ein ziemlich leistungsstarkes sogar, eine richtige Jacht. Wahrscheinlich ist sie sogar schneller als ein Polizeiboot und hochseetüchtig obendrein. Bisher hat Andersson sie allerdings nur für den ›Fährdienst‹ zwischen Stockholm-Hafen und Godsby oder als schwimmendes Hotel für mehrtägige Bade- und Angeltouren mit seinen Geschäftsfreunden benutzt. Auf hohe See soll es wohl erst gehen, wenn er mal in Schwierigkeiten steckt. So wie jetzt zum Beispiel. Darum werden wir sie auch gleich entern, wenn sie überhaupt vor Anker liegt.«
Aus Lundgrens Stimme sprach bei den letzten Sätzen aufrichtige Genugtuung. Kein Wunder, dachte Raven. Schließlich ist er ja seit Jahren hinter diesem Andersson her und kann ihm trotzdem partout nichts ans Zeug flicken. Natürlich wissen alle, dass er der Chef des Syndikats in Schweden ist, nur die Beweise, die Beweise ...
Und jetzt bewies ein beinahe lückenloses Geflecht von Indizien, dass Andersson zwei von der französischen Polizei wegen Mordes gesuchten Profi-Gangstern - bekannten Mitgliedern des Syndikats - Unterschlupf gewährte.
Nachdem Raven und Melissa müde und zerschlagen nach viel zu wenig Stunden Schlaf auf dem Stockholmer Flughafen von Bord des Air-France-Liners geklettert waren, hatte der Chef von Riksmordkommissionen nicht einmal eine Stunde gebraucht, um einen Hausdurchsuchungsbefehl zu erwirken und eine kleine Armee zusammenzutrommeln. Dass sich Stig Lundgren bei dieser Gelegenheit auch gleich noch den Rest von Sören Anderssons hübschem Besitztum ansehen wollte, lag auf der Hand. Endlich ein Grund, einmal ein bisschen in den privaten Akten des mutmaßlichen Syndikatschefs zu wühlen ...!
Für Lundgren musste das wie Weihnachten und Ostern an einem Tag sein.
»Das Boot hat übrigens einen komischen Namen«, fuhr der schwedische Kriminalbeamte fort. »Wenn ich mich recht erinnere, heißt es MARONAR.«
Raven zuckte wie von einer Tarantel gestochen zusammen. Obwohl es in der Kabine des Rudergängers nun bestimmt nicht warm war, trat ihm der Schweiß in dicken Perlen auf die Stirn.
Natürlich hatte er nie daran gezweifelt, dass er auf Sören Anderssons Insel auf die vier Kristallschädel stoßen würde, deren Spuren er und Melissa quer durch Europa verfolgt hatten, aber diese plötzliche Bestätigung kam wie ein Schock für ihn. Am liebsten wäre er nach unten gegangen, unter Deck, wo Melissa im Warmen eine letzte Mütze Schlaf zu nehmen versuchte, bevor die Stunde der Entscheidung anbrach, und hätte sich in ihre Arme gekuschelt.
Statt dem Impuls zu folgen und aus der Steuerkabine zu stürmen, riss er sich jedoch zusammen und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Stig Lundgren war seine panikerfüllte Reaktion jedoch nicht entgangen. Er beugte sich vor und legte Raven eine Hand auf die Schulter. »Sag mal, stimmt etwas nicht mit dir?«, erkundigte er sich kameradschaftlich. Sein Gesicht drückte echte Sorge aus.
Bis zum heutigen Tag hatte Raven von Schweden eigentlich nicht viel gewusst. Seit seiner Bekanntschaft mit Stig Lundgren wusste er nun zumindest, wie schnell man in Schweden zum vertraulichen »Du« übergeht und jemanden beim Vornamen nennt. Obwohl er es kaum glauben konnte, hatte Stig ihm allen Ernstes versichert, dass sich sogar Verbrecher und Kriminalbeamte duzten. In die eine Richtung war das zwar auch in allen anderen Ländern üblich, von denen Raven je gehört hatte, aber andersherum führte es dort meistens zu ein paar Schlägen zwischen die Zähne. Nicht so in Schweden.
Ob dieses schnelle »Du« allerdings eine echte Vertrautheit schuf oder nur eine reine Äußerlichkeit blieb, war eine ganz andere Frage. Raven beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen.
»Stig«, begann er langsam, »glaubst du an übersinnliche Phänomene?«
»Nein«, sagte Stig Lundgren. »Nicht, wenn du mir erzählen willst, dass Sören Andersson ein Geist ist und er mir wieder durch die Lappen geht. Oder dass er mit Geistern im Bunde ist, die ihn und seine Bande beschützen.«
Raven drehte sich halb zum Fenster um und starrte durch die jetzt mit
Weitere Kostenlose Bücher