Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
können.
    Der Junge warf einen langen Blick auf den ersten Scheiterhaufen, an dem sie vorüberkamen. Sofort überkam ihn Übelkeit, denn nicht alle der grotesk verdrehten Formen, zwischen denen hier und da noch kleine Funkenherde glommen, waren verkohlte Astkloben. Der Junge verspürte ein Würgen in der Kehle. Fortan vermied er es, seine Augen auf die Scheiterhaufen beidseits des Weges zu richten, deren Zahl zunahm, je mehr sie sich dem Dorf selbst näherten. Er sprach auch nicht zu dem Alten von dem, was er sah.
    Das war auch keineswegs nötig. Allein der Geruch verbrannten menschlichen Fleisches reichte aus, den Alten wissen zu lassen, was hier geschehen war.
    Die in Trümmern liegenden Häuser des Dorfes aber konnte der Junge nicht aus seinem Gesichtsfeld verbannen. Als sie den Weiler - oder das, was einmal ein Weiler gewesen war - betraten, waren die Ruinen überall rings um sie, und mit ihnen die geschändeten Überreste menschlichen Lebens und Treibens: zerschlagene Möbel, zersplittertes Steingutgeschirr, zu Streifen zerfetzte Kleider und Tuche.
    Ein Teil der Ruinen war schon geschleift worden; von kräftigen Männern mit schweren Hämmern so zu Schande geschlagen, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Bei anderen war das Werk der Zerstörung noch nicht so weit vorangeschritten, doch auch hier hatten wuchtige Hämmer schon Holztüren zerspellt und gemauerte Wände zerschmettert, erste Vorboten der Vernichtung, die da noch folgen sollte. Es war, als wollten die Horden, die über das Dorf hergefallen waren, es so sehr dem Erdboden gleich machen, dass alle Erinnerung an das Dorf und seine Bewohner aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt wurde.
    »Da ist eine Schrift an einer der Wände«, sagte der Junge mit stockender Stimme. »Sie ist mit Blut geschrieben.«
    Sie blieben stehen, und der Alte löste seine Klauenhand von der Schulter des Jungen. »Zeichne mir die Buchstaben in die Fläche der Hand, einen nach dem anderen«, befahl er dem Jungen, denn er wusste, dass der nicht lesen konnte. »Fang an!«
    Der Junge gehorchte. Aufs Äußerste angespannt, die Zunge geschäftig zwischen den Lippen, malte er mit zitternden Fingern Buchstabe um Buchstabe nach. Die Miene des Alten zeigte keinerlei Regung, als sich die unbeholfenen Striche in seiner Hand zu dem Wort formten, das in roten, ungelenken Lettern die Hauswand vor ihnen entstellte.
    »Was steht dort?«, fragte der Junge fröstelnd und atemlos, als er geendet hatte.
    »Hexendorf«, sagte der Alte.
    Und als sei das ein Stichwort gewesen, drang in diesem Augenblick ein leises, kaum mehr vernehmbares Stöhnen an ihre Ohren. Der Junge zuckte zusammen wie unter einem Hieb.
    »Also ist doch noch Leben im Dorf«, stellte der Alte mit ruhiger Stimme fest. »Führe mich hin.«
    Der Junge gehorchte.
    Als sie den Mann fanden, wünschte er sich, er hätte es nicht getan.
    Er hing an seinen ausgestreckten Armen von einem der mächtigen Äste der Dorfeiche herab, und seine zusammengeschnürten, mit einem Gewicht beschwerten Füße schwebten eine Handbreit über dem festgetretenen Boden. Er war nackt, und sein Rücken war vom Hals bis zu den Waden eine einzige blutende Wunde. In dem zerschründeten Fleisch glitzerten Salzkristalle.
    Der Junge wusste, was für ein Instrument solche schrecklichen Verletzungen hervorrief: eine vier Fuß lange Karbatsche, wie sie von den Hexenjägern gerne angewendet wurde, um Geständnisse aus ihren Opfern herauszuprügeln. Dass auch dieser Mann jedes Verbrechen gestanden hatte, das man ihm zur Last legte, selbst wenn er es nicht begangen hatte, stand außer Zweifel. Seinen Wunden nach zu urteilen, musste er mindestens hundert Hiebe mit dem schrecklichen Folterinstrument erhalten haben. Anschließend hatte man ihm zu allem Überfluss Salzwasser in die offenen Wunden gegossen.
    Hin und wieder durchlief ein Zucken den Leib des Gemarterten und ließ neues Blut aus den aufgeplatzten Striemen und Beulen treten. Der Anblick war so Mitleid erregend, dass dem Jungen Tränen in die Augen stiegen.
    »Ein Mann«, wisperte der Junge, bemüht, sich seine Tränen nicht anmerken zu lassen. Kein Mitleid. Gerechtigkeit. »Sie haben ihn so gepeitscht, dass er bald sterben wird.«
    »Aber noch lebt er«, sagte der Alte. »Vielleicht kann er uns sagen, was hier geschehen ist und was es mit den Menschen beim Turm auf sich hat. Stehen wir so, dass er uns sehen kann?«
    Wortlos, mit gesenktem Blick, führte der Junge ihn um den Gemarterten herum. Dann hob er die

Weitere Kostenlose Bücher