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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gab sich alle Mühe, durch den dicken, fettigen Qualm hindurchzuspähen. »Ein Dorf drunten im Tal«, begann er stockend. »Die Häuser stehen in Flammen oder sind nur noch verkohlte Ruinen. Und zwischen den Häusern sehe ich Scheiterhaufen, zu Asche verbrannt.«
    »Lebt da noch wer?«
    »Das kann ich nicht erkennen, Herr.«
    Die Stimme des Jungen bebte und drohte zu brechen. Seine braunen, freundlichen Augen - die zugleich die Augen seines Herrn waren - hatten in den Jahren ihrer gemeinsamen Wanderschaft viel gesehen: Städte, von Pestilenz entvölkert, Schlachtfelder am Tage nach der Schlacht, Pranger, Schafott und Galgen. Doch nie hatten sie sich an den Anblick des Todes gewöhnt, und das Bild des verheerten Dorfes erschien dem Jungen so schrecklich, als habe er bis jetzt in der behüteten Umgebung eines abgeschiedenen Klosters gelebt und nie erfahren müssen, was Menschen Menschen zufügen können.
    Mit einem Ruck drehte sich der Alte zu dem Knaben um und krallte die Spinnenfinger seiner linken Hand in dessen Schulter. Ein unterdrückter Schmerzenslaut entrang sich dem Jungen.
    »Kein Mitleid«, sagte der Alte scharf, und mit einem Mal war seine Stimme nicht mehr brüchig und heiser, »Gerechtigkeit.«
    »Gerechtigkeit«, wisperte der Junge. Angstvoll schaute er zu dem harten, kalten Gesicht seines Meisters auf. Einen Augenblick lang hatte er das entsetzliche Gefühl, dass die milchigen, pupillenlosen Kugeln, die dieses Gesicht beherrschten, ihn trotz ihrer Blindheit sehen konnten - ja, mehr als das: dass sie ihn durchbohrten und hinabschauten bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele. O ja, der Alte erkannte ihn als das, was er in Wirklichkeit war - schwach, armselig und feige.
    Manchmal fragte sich der Junge, wie er überhaupt fähig gewesen war, so lange die Bürde jenes Fluches zu tragen, die der Alte seinen Ahnen und ihm auferlegt hatte. Und er sehnte sich nach dem Tag, an dem diese Last endlich von ihm genommen werden würde und auf die Schultern eines anderen Menschen, eines anderen Geschlechtes überging.
    »Gerechtigkeit«, wiederholte der Alte nickend. »Los, Junge. Führe mich ins Dorf!«
    »Ja, Meister«, sagte der Junge ergeben. In seiner Stimme lag so viel Müdigkeit und Resignation, dass man hätte glauben können, sie gehöre einem um viele Jahre älteren Mann. »Stützt euch nur gut auf mich; der Weg ins Tal ist recht beschwerlich.«
    Langsam und vorsichtig tasteten sie sich den schmalen Fußpfad entlang, der in vielen Windungen und Schleifen über den steilen Hang ins Tal hinunterführte. Rechts und links des Pfades krallten sich die knotigen Wurzeln der Bäume in den schroffen, oft blank zu Tage tretenden Fels. Bisweilen standen die kahlen Baumgerippe so dicht beieinander, dass sich der Pfad zwischen ihnen zu verlieren drohte, bis er auf einmal ganz verschwand.
    Auf ihren Wanderungen durch das Land benutzten sie viele solcher halb unwirklichen Pfade, die außer ihnen nie eines Menschen Fuß betrat, nie eines Menschen Auge auch nur sah. Sie mieden die großen Heerstraßen und viel befahrenen Karrenwege, über die Krieger und Händler zogen. Sie lebten vom Land, und Dörfer und Städte berührten sie selten. Wenn sie es doch einmal taten, dann hatte der Alte seine Gründe dafür.
    Die Gründe hießen meist Leid und Tod.
    »Jetzt lichtet sich der Rauch ein wenig«, verkündete der Junge, als sie, um Atem ringend, auf einem Absatz des Weges stehen blieben. »Die Bäume behindern mir die Sicht, doch auf der anderen Seite des Tales scheint ein Turm zu stehen, und dort erkenne ich Bewegung. Dort scheint viel Volk versammelt.«
    Der Alte nickte und schlug die Kapuze seines Umhangs zurück. »Viel Volk«, wiederholte er langsam. »Ich höre ihre Stimmen. Sie wehklagen und weinen.«
    Der Junge spitzte die Ohren, aber er vernahm nur ein ganz fernes Murmeln, das auch das Rauschen des Windes in den Zweigen oder das Plätschern eines Baches sein mochte. Seine Ohren waren nicht so fein wie die des Alten; der Alte brauchte ihn, damit er für ihn sah, nicht um zu hören, riechen, fühlen oder schmecken.
    Sie krochen weiter, zwei winzige Spinnen an der großen Wand des Hanges. Als sie den Talgrund und den Fahrweg, der ins Dorf führte, erreichten, waren die Schatten schon doppelt mannslang. Der Abend legte seinen Mantel über das Land, als wolle er gnädig verhüllen, was hier und an vielen anderen Orten des Landes geschah, aber die Scheiterhaufen brannten zu lichterloh, als dass die Nacht sie hätte zudecken

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