Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Das unwirkliche Lächeln spielte noch immer um seine Lippen. »Auf denn«, sagte der grau Gewandete beinahe leichthin. »Zum Turm, mein Junge. Wir wollen den Hexenjägern einen Besuch abstatten.«
Der Pfad zum Turm war nicht schwer zu finden. Er bog vom Fahrweg ab und verschwand zwischen hoch aufragenden Eichen im Unterholz, aber unzählige Füße hatten ihn ausgetreten und unzählige Körper die Zweige zu beiden Seiten niedergebrochen und geknickt. Über Lehm und Fels schritten sie vorwärts, durch einen gespenstischen Wald, in dem immer noch Rauchfetzen von den Bränden der Häuser und Scheiterhaufen zu hingen und den Gesang der Vögel zu ersticken schienen, denn ringsumher war es still wie in einer Gruft. Aber vielleicht waren es auch nur die ersten Abendnebel, die heraufzogen, und vielleicht schwiegen die Vögel auch nur, weil sie sich vor der Dunkelheit fürchteten.
Menschliche Stimmen, Wehklagen, rohes Gelächter und Fluchen wiesen ihnen den Weg, und noch bevor sie um die letzte Krümmung des Pfades bogen, schimmerte durch das Unterholz das wabernde Licht von Pechfackeln zu ihnen herüber.
Endlich brachten sie einen letzten steilen Anstieg hinter sich, umrundeten eine Gruppe kantiger, wie ein Wurf aus dem Würfelbecher eines Riesen am Hang ausgestreuter Felsen, und da lag er vor ihnen: der Teufelsturm.
Er war wirklich ein uraltes Gemäuer, klobig, aus schwarzen Felsbrocken geschichtet und fensterlos, und seine nachtdunkle Masse schien das von Hochnebel gedämpfte Mondlicht und den Schein der blakenden Fackeln in sich aufzusaugen. Ein unheiliger Hauch böser Magie lag über den Turm, und der Junge begriff plötzlich, warum die Bewohner der umliegenden Weiler die unglückseligen Dörfler des Paktes mit Satan verdächtigt und bei den Hexenjägern denunziert hatten. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass auch er das Bedürfnis verspürte, sich in die nächste Kirche unter das Kruzifix zu flüchten, um sich unter den Schutz des Allerhöchsten zu stellen - trotz allem, was er während seiner Wanderungen mit dem Alten gesehen und erlebt hatte.
Am Fuße des Turms drängte sich ein wilder Haufen breitschultriger, ungeschlachter Männer. Sie waren offensichtlich dabei, eine Öffnung in die Turmwand zu brechen, durch die sie ihre gefesselten Opfer in ihr lichtloses Verlies stoßen konnten. Schwere Steinbrocken wurden von Hand zu Hand weitergereicht und nahebei aufgestapelt. Kräftige Arme rührten in einem hölzernen Bottich voll Mörtel.
Die in Ketten gelegten und in hanfene Bande geschlagenen Dörfler selbst saßen und kauerten ein Stück vom Turm entfernt, von mit Piken, Knüppeln und Karbatschen bewaffneten Männern bewacht. Sie zeigten keine Zeichen von Gegenwehr. Die tagelangen Verhöre, Folterungen und Entwürdigungen, die Zerstörung ihres Leibes, ihres Lebens und ihres Hab und Gutes hatten ihren Widerstandsgeist gebrochen. Viele von ihnen schienen unter der Tortur dem Wahnsinn verfallen zu sein, denn ab und an durchdrangen wirre Ausrufe die Nacht, zusammenhangloses Gestammel, wie es nur einem umwölkten Geist entspringen konnte.
Der Junge wünschte sich nichts sehnlicher, als sich mit beiden Händen die Ohren zuhalten zu können, als eine schrille Frauenstimme wieder und wieder »Mein Kind! Mein Kind! Was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«, rief, aber das war nicht möglich, denn er brauchte die eine Hand, um den Alten zu führe, und die andere, um die Zweige beiseite zu schieben, die ihnen ins Gesicht peitschten.
Auch einer der Folterknechte, ein kleiner, krummbeiniger Mann mit flammend rotem Haar, das im Licht der Fackeln selbst wie eine Fackel leuchtete, schien das Geschrei der Frau nicht mehr ertragen zu können. Er trat aus der Reihe der Wachtposten und stocherte mit seiner Pike in dem Knäuel der Gefangenen herum, bis er mit dem stumpfen Ende den Kopf der Frau traf und sie mit einem groben Stoß jählings zum Schweigen brachte.
»Dein Kind?«, sagte er eher unbeteiligt. »Das war doch dieser Wechselbalg mit den verdorrten Gliedern und dem dicken Kopf, nicht wahr? Na, das Balg haben wir dahin geworfen, wo es hingehörte - auf den erstbesten Scheiterhaufen. Und wenn du mich fragst, Weib, wo es jetzt ist, dann würde ich sagen, bei seinem Vater. Drunten in den ewigen Flammen.«
Mit einem verzweifelten Aufstöhnen sank die Frau in sich zusammen und verbarg ihr Gesicht in den Fetzen eines alten, von Blut und Schmutz starrenden Umhangs, des einzigen Kleidungsstücks, das ihr noch verblieben
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