Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Augen, um dem Mann ins Angesicht zu schauen. Ein leiser, ungläubiger Schrei entrang sich seiner Kehle.
»Was ist?«, fragte der Alte ungeduldig. »Hat man ihn auch geblendet?«
Unwillkürlich schüttelte der Junge den Kopf. »Nein, Meister«, flüsterte er mit trockener Kehle. »Sie haben ihn nicht geblendet. Er kann uns sehen. Er muss uns sogar sehen. Sie haben ihm die Augenlider abgeschnitten.«
»Marian ... Marian ...« Der Mann an der Eiche begann zu sprechen, und seine Stimme war nicht viel mehr als ein schmerzerfüllter Hauch. Die Worte kamen wie Blutstropfen über seine aufgesprungenen Lippen. Seine geröteten, von Tränen verquollenen Augen starrten sie so voller Qual an, dass es dem Jungen kalt den Rücken hinabrieselte.
Der Alte schien vom Leid des Gemarterten unberührt. Mit ruhiger Hand hob er seinen knorrigen Stab und berührte damit leicht die nackte Brust des Folteropfers. »Was hat sich abgespielt?«, fragte er mit einer Stimme, die keinerlei Gefühl verriet. »Wo sind all die Dorfleute hin?«
»Tot ... Auf dem Scheiterhaufen verbrannt ... Oder am Teufelsturm«, erwiderte der Mann an der Eiche. Trotz seiner Schmerzen schien er noch halbwegs bei klarem Verstand zu sein. »Die Hexenjäger ... sie sind ins Dorf gekommen, um unsere Frauen zu verhören ... haben von Gerüchten erzählt, dass sie des Nachts am alten Teufelsturm mit Satan tanzten, feierten und buhlten ... und dass wir, die Männer, von diesem Teufelswerk wüssten oder gar mitgetan hätten.«
»Und? Wusstet ihr davon?«
Muskelkrämpfe ließen den entstellten Körper hin und her pendeln. »Es ... gab kein Teufelswerk, nur einen nächtlichen Dorftanz zur Sommersonnenwende. Aber die Hexenjäger ließen sich nicht überzeugen. O Nehemiah Oldham, du bist der einzige Satan, der je dieses Dorf betreten hat ... du und deine verfluchten Schergen ... Satan ...« Seine Stimme sank zu einem unverständlichen Murmeln herab, als sich sein Geist in grauen Regionen verlor, die dem menschlichen Verstand für gewöhnlich nicht zugänglich sind.
Der Alte stieß ihn mit dem Knotenstock an, kurz und scharf. »Und was für eine Rolle spielt der Turm? Sprich!«
Der Mann an der Eiche starrte an dem Stock entlang den Alten an, und eine neue Art von Grauen erfüllte seine zum Sehen verdammten Augen. Er sagte nichts.
Ein zweiter, härterer Stoß. »Sprich!«
»Sie ... sie wollen sie dort einmauern ... lebendig«, wisperte der Gemarterte. Sein Mund war eine klaffende Wunde. »Sie sagen, der Turm sei alt ... sehr alt ... vielleicht vom Teufel selbst erbaut. Der rechte Ort, um uns vom Angesicht der Erde zu vertilgen ... o Marian, Marian ...«
Bei den letzten Worten schluchzte er laut. Dann aber gewann seine Stimme wieder an Festigkeit.
»Lasst mich hinunter, Ihr Herren«, forderte er die beiden auf. »Marian ... ich muss zum Turm und Marian retten. Lasst mich hinunter, dass ich den Teufel Nehemiah Oldham mit bloßen Händen TÖTEN kann. Bitte, Ihr Herren!«
Der Junge machte einen Schritt zur Eiche hin, wie um hinaufzusteigen und die Seile zu lösen, die die Handgelenke des Mannes banden, aber der Alte spürte die Bewegung und hielt ihn mit einem raschen Griff zurück.
»Du wirst nicht gehen können«, sagte er, zu dem Gemarterten gewandt.
Dessen Gesicht verzog sich zu einer Maske des Hasses. »Dann werde ich kriechen, aber zum Turm muss ich, so wahr ich Amos Prynn heiße.«
»Mein ist die Rache, spricht der Herr«, versetzte der Alte. »Erinnerst du dich an dieses Wort?«
Mit einem Male verschwand der Hass aus den Zügen des Gemarterten. »Nicht um der Rache willen«, flüsterte er. »Für Marian und die Gerechtigkeit.«
Ein seltsames Lächeln verklärte das Gesicht des Alten. »So sei es«, sagte er. Erneut berührte er die Brust des Mannes mit dem Stock, doch diesmal sanft und leicht wie eine Feder. »Dir wird Gerechtigkeit werden.«
Der Kopf des Gemarterten sank zur Seite, und er verschied. Sein zuvor von heftigen Krämpfen geschüttelter Körper wurde ganz still, und seine blutunterlaufenen Augen erblickten vielleicht Dinge, die noch kein lebender Mensch gesehen hatte.
Eine unwirkliche Stille lag über der Szene, nur unterbrochen vom leisen Tropfen des Blutes, das von den Fersen des Leichnams über das Gewicht an seinen Füßen rieselte und von dort aus in die rasch größer werdende rote Pfütze auf dem festgestampften Lehmboden fiel.
Der Alte drehte sich zu seinem Begleiter um, der die Geschehnisse mit weit aufgerissenen Augen verfolgt hatte.
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