Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
dass ihre Handgelenke immer noch gefesselt waren. Sie wollte lachen, doch seltsamerweise kam nur ein krächzender, unmenschlich rauer Laut aus ihrem Mund. Wie trocken ihre Lippen waren, ihre Kehle! Sie schluckte, aber die Muskeln versagten ihr den Dienst.
    In ihrem Kopf war ein unirdisch leichtes Gefühl. Sie schlug die Augen auf - oder vielleicht waren sie schon die ganze Zeit über offen gewesen? -, und ringsumher war nichts als Schwärze. Sie bewegte die Hände erneut, langsam und vorsichtig, und spürte nichts. Die Hände waren abgestorben, sicher durch die lange Fesselung.
    Alte, verfaulte Zahnstummel gruben sich tief in ihre Brust, nagten daran herum.
    Versuchten, Stücke davon abzubeißen.
    Marian Prynn kicherte hohl. Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Natürlich war das nicht der Mund eines Kindes, sondern der eines Greises. Aber was macht das schon? Sie begann, eine beruhigende Melodie zu summen, um den Greis zu trösten, ein Wiegenlied, mit dem sie manches Mal ihren kleinen Johnny in den Schlaf gesungen hatte.
    Ihre Stimme gehorchte ihr jetzt besser, aber als sie bei der zweiten Strophe angelangt war, verwandelte sich das Gefühl der Zärtlichkeit, das sie für den alten Mann empfunden hatte, plötzlich in Ekel und Widerwillen. Genauso hatten auch William und Simon an ihrer Brust gekaut. Die Erinnerung war plötzlich ganz klar: Münder, Gesichter und Hände im Unterholz, Steine und Zweige und Lehm. Und mit einem Male wollte sie das, was der alte Mann da tat, nicht mehr mit sich machen lassen.
    Wieder zerrte sie an den Fesseln, und diesmal gaben sie nach, oder es gelang ihr, die Hände herauszuziehen, so genau vermochte sie das nicht zu unterscheiden. Etwas fiel mit einem leisen Plumps zu Boden und kroch blitzschnell davon. Was es war, wusste sie nicht.
    Sie griff mit der rechten Hand zu - die linke konnte sie seltsamerweise nicht bewegen - und versuchte, den Eindringling an seinen Haaren wegzuzerren, aber der nagende Mund löste sich nicht von ihrer Brust. In ihrer Hand blieben nur dicke Büschel Haare zurück, und als sie erneut hinlangte, um diese menschliche Ratte an Kopfhaut, Ohren oder Wangen zu packen und sie loszureißen, berührten ihre Finger nur eingeschrumpelte, pergamenttrockene Hautfetzen und blankes Bein. Ohren hatte der Schädel nicht.
    Und da begriff sie, dass das, was da vor ihr hockte und mit infernalischem, niemals zu stillendem Hunger an ihrer Brust saugte und nagte, nicht länger ein Mensch war, sondern nur noch ein Ding.
    Ahnungsvoll hob sie die Arme und tastete mit den Fingern der rechten Hand nach dem Gelenk der linken. Jetzt wurde ihr klar, warum es ihr doch noch gelungen war, die eng geschlungenen Fesseln abzustreifen, die ihnen die Hexenjäger angelegt hatten, damit sie sich nicht zu früh befreiten und den noch feuchten Mörtel aus den Ritzen zwischen den aufgeschichteten Steinquadern kratzten.
    Die Erklärung war einfach. Stricke, die straff um Fleisch gebunden sind, werden locker, wenn sie nur noch um Knochen und verschrumpelte Haut liegen.
    Noch etwas stellte sie fest, als sie ihr Handgelenk befingerte. Ihre linke Hand war verschwunden. Die Bruchstelle fühlte sich staubig und trocken an, beinahe wie Bimsstein. Auf keinen Fall wie Fleisch.
    Und da kam die Erinnerung zurück.
    Sie alle waren tot. Gestorben im Teufelsturm, unter Schreien und Flehen und Jammern.
    Verhungert.
    Verdurstet.
    Verrottet und verfault.
    Jetzt spürte sie nichts mehr als grenzenloses Mitleid für das Ding das sich immer noch mit verzweifeltem Hunger an ihre Brüste drängte. Da gab es nämlich nichts, was seinen Hunger stillen konnte - kein Fleisch, keine Milch, kein Blut. Schließlich war sie ja selber so ein Ding - eine lebende Tote.
    Und sie war, wie sie auf einmal merkte, ebenfalls unendlich hungrig.
    Ungeduld packte sie, ausgelöst von diesem alles verzehrenden Hunger. Mit einer neuerlichen Anstrengung griff sie nach dem Untoten an ihrer Brust und stieß ihn von sich. Er war überraschend leicht, eine trockene, leere Hülle. Dann drehte Marian Prynn - oder das, was einmal Marian Prynn gewesen war - sich um und starrte in die Schwärze, in der ihre Hand verschwunden war.
    Aber da war nicht nur Schwärze, sondern auch Licht - ein einzelner, schwächlicher Lichtstrahl, der trübe durch eine winzige Ritze im Mauerwerk sickerte. Ungläubig keuchend kroch sie auf allen vieren dorthin, schob den verstümmelten Arm, der nicht mehr dicker als ein Stecken war, in diesen ersten Verbindungstunnel

Weitere Kostenlose Bücher