Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Janice, »ich verstehe nicht, was eigentlich in dich gefahren ist! Du hättest doch auch ein bisschen freundlicher zu Konstabler Price sein können, oder nicht?«
Raven, der es sich gerade wieder in der luxuriös weichen Polsterung des Beifahrersitzes bequem gemacht hatte, drehte langsam den Kopf zu ihr hinüber. Er konnte selber spüren, wie verkniffen sein Mund war, und er war froh darüber, dass Janice nicht ihn anblickte, sondern unverwandt auf die Straße hinausstarrte.
»Anfangs war er mir noch nicht vorgestellt«, meinte er und bemühte sich, seine Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen. »Außerdem fand ich seine Fragen reichlich aufdringlich. Wieso interessiert sich so ein hergelaufener Polizeikonstabler an einer Straßensperre überhaupt für deine Familie?«
Janice lächelte resigniert. »Daran sieht man eben, dass du aus der Stadt kommst. Hier auf dem Land kennen sich die Mitglieder der alteingesessenen Familien noch alle, zumindest vom Hörensagen. Und die Familie Land ist im Raum Shilford bis ins 16. Jahrhundert urkundlich nachgewiesen. Wahrscheinlich gab es sie schon viel früher hier. Bei der Familie des Konstablers wird es nicht anders sein, auch wenn ich mich nicht mehr an den Namen erinnern konnte. Ich bin einfach schon zu lange weg von hier.« Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: »Was du für Aufdringlichkeit hältst, ist nichts weiter als ein Ausdruck für den intensiveren Bezug, den die Menschen hier oben noch zueinander haben. Keine Neugierde, sondern ehrliches Mitgefühl.«
Draußen huschten die schwarzen Ruinen der Bäume beidseits der schmalen Straße vorbei, schattenhafte Spukgestalten hinter Vorhängen aus Nebel. Raven ließ seinen Blick aus dem Wagenfenster schweifen. Die Straße wand sich langsam in unzählige Serpentinen einen dicht bewaldeten Abhang hinauf. Er verspürte kein Bedürfnis, Janice in einer Angelegenheit zu widersprechen, von der sie so viel mehr verstand als er. Schließlich war er in der Tat in London geboren worden und dort aufgewachsen - ein Stadtmensch, wie er im Buche stand. Er fühlte sich im Getriebe des Piccadilly Circus zur Hauptverkehrszeit allemal wohler als in der Abgeschiedenheit des schottischen Hochmoores oder der öden Felsenküste Cornwalls. Oder als hier, was das anging. Er hatte Janice überhaupt nur begleitet, weil sie ihn so sehr darum gebeten hatte - und auch deswegen, weil er insgeheim hoffte, dass er hier, während dieses Wochenendes fernab von London, endlich einmal die Gelegenheit und den Mut dazu fand, sich mit ihr auszusprechen.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, bemerkte Janice in diesem Augenblick: »Du hast dich verändert, Raven.« Dann seufzte sie, ein merkwürdiges kleines, verletztes Geräusch. »Und unsere Beziehung hat sich auch verändert, weiß du das?«
Raven blickte erneut zu ihr hinüber, aber offenbar erwartete sie keine Antwort, und darum gab er ihr auch keine, obwohl es vielleicht eine gute Gelegenheit gewesen wäre, endlich auf all die Dinge zu sprechen zu kommen, die ihn seit Wochen bedrückten. Aber Janice wirkte mit einem Mal zu weit entfernt, als dass er den dazu nötigen Mut hätte zusammennehmen können.
Verbissen starrte sie geradeaus auf die wie unter einem Sturzbach aus trüber Milch begrabene Straße, deren Verlauf sich selbst im Scheinwerferlicht längst nicht mehr eindeutig erkennen ließ. Trotzdem nahm Janice den Fuß kaum vom Gaspedal - ein Zeichen ihrer Angespanntheit.
Raven ließ sich zurücksinken und schloss die Augen, um vor sich hinzubrüten. Natürlich hatte Janice Recht. Er hatte sich verändert, und ihre Beziehung ebenfalls. Und im Gegensatz zu Janice wusste er auch, woran das lag.
Jedenfalls so ungefähr.
Übergangslos erinnerte er sich plötzlich daran, wie er vor zwei Tagen versucht hatte, Melissa McMurray in ihrem Büro im Britischen Museum anzurufen. Seit den albtraumhaften Ereignissen auf der Schäre Godsby hatten sie keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Sie waren sogar getrennt zurückgeflogen, Raven direkt nach London, Melissa über Paris, wo sie wenigstens noch den letzten Tag des wissenschaftlichen Kongresses mitbekommen wollte, dessentwegen sie eigentlich nach Frankreich gereist war.
Inzwischen musste sie aber längst wieder in England sein, und Raven hatte das dringende Bedürfnis verspürt, sie irgendwo zu treffen und sich mit ihr auszusprechen - nicht nur über das, was sich auf Godsby zugetragen hatte, sondern auch und vor allem über das, was in jener
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