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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sicherlich nicht einer der schlechtesten Orte, um sich auf das mittelalterliche England und die grausamen Pogrome, die es gesehen hatte, einzustimmen.
    Tic. Tic. Tic.
    Das Hämmern der Schreibmaschine brach erneut ab, und diesmal wurde es nicht wieder aufgenommen. Verblüfft legte Anne Devlin den Kopf schief. Gerade hatte es doch noch so geklungen, als wäre Seymour sicher über die Untiefe hinweggekommen, als hätte er seinen alten Schwung zurückgewonnen. War das vielleicht nur ein letztes Aufflackern seiner kreativen Energien gewesen, sodass er jetzt für heute endgültig festsaß? In diesem Falle würde gleich das Rücken seines Schreibtischstuhls vernehmbar sein, das Zuschlagen der Arbeitszimmertür, das Rascheln von Papier und schwere Schritte auf der Treppe.
    Unwillkürlich horchte Anne auf das Schaben von Metallbeschlägen über Dielenbrettern, aber stattdessen wurde sie sich nur eines Geräusches bewusst, das sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Es war ein tiefes, kehliges Brummen, das immer lauter wurde, und es kam nicht aus dem Inneren des Hauses, sondern von draußen.
    Nach einem ersten Augenblick der Verwirrung begriff Anne, worum es sich dabei handelte: Ein Wagen mühte sich langsam und in kleinem Gang die schmale, steile Auffahrt nach Hillcrest Manor hinauf. Jetzt verstand Anne auch, warum Seymour seine Arbeit unterbrochen hatte. Er hatte den Wagen vor ihr kommen gehört und war aufgestanden, um ihre Gäste zu empfangen - Janice Land, die Jugendfreundin Annes, und ihren Verlobten Raven.
    Schritte im Erdgeschoss bestätigten Annes Vermutung. Sie bewegten sich nicht die Treppe hinauf, sondern verloren sich in der lang gestreckten Halle des Herrenhauses, die einen unpraktisch großen Teil des Gebäudegrundrisses einnahm. Es war beinahe unmöglich, diese tanzsaalartige Halle zu heizen, aber zum Empfangen von Gästen war sie großartig geeignet.
    Nur, dass viel zu selten Gäste kamen. Janice und Raven waren die ersten seit Wochen. Aber nicht nur deswegen freute sich Anne unbändig auf ihren Besuch. Sie warf einen raschen Blick auf die zierliche Armbanduhr an ihrem Handgelenk und hob überrascht die Augenbrauen. Früh waren die beiden, viel früher als erwartet. Aber umso besser, umso besser ...
    Mit einer Behändigkeit, die ein Außenstehender ihr in diesem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft nicht mehr zugetraut hätte, sprang sie auf und eilte hinüber zum Fenster, um die Ankunft des Wagens zu verfolgen.
    Oder besser gesagt: Sie versuchte es jedenfalls.
    Denn bevor sie auch nur zwei Schritte weit gekommen war, explodierte ein ungeheurer Schmerz in ihrem Bauch.
    Dunkel und kalt war es im Inneren des Turms. Nicht der geringste Hauch bewegte die abgestandene, nach Tod und Verwesung stinkende Luft. Durch keine noch so kleine Mauerspalte drang Licht in diese grenzenlose Finsternis. Das Innere des Turms war kein Gefängnis, es war eine Gruft.
    Hier konnte es kein Leben geben, nicht einmal Ratten. Schon seit Jahrhunderten nicht mehr.
    Und doch ... Und doch ...
    Etwas war hier am Leben. Es kroch und tappte, schabte und knisterte wie trockenes Laub. Kichernd und raschelnd in der Schwärze. Es dachte. Und es träumte. Und es hatte Namen.
    »Daniel Mathaway. Ich bin Daniel Mathaway!«
    »Bethseba James. Ich bin Bethseba James!«
    »Marian Prynn. Ich bin Marian Prynn!«
    Das war sehr wichtig. Es durfte nicht vergessen werden, niemals und nie. Es war das Einzige, was ihnen in der Gruft geblieben war; das Einzige, was sie ihr Eigen nennen konnten. Das Einzige neben dem Hass und der Erinnerung an jene Tage, als das Unheil über sie hereingebrochen war.
    Und auch die anderen hatten Namen, jene, die ihnen das angetan hatten.
    »Nehemiah Oldham, der Hexenjäger!«
    »William und Simon, die Gehilfen!«
    Die Namen, wie eine Litanei beständig wiederholt, fachten den Hass zu lodernden Flammen an. Er brannte heller als alle Feuer, die ihre Männer und Frauen und Kinder verschlungen hatten. Und es gab nichts, was diesen Scheiterhaufen löschen konnte.
    Nicht einmal die Zeit.
    Nicht einmal der Tod.
    Marian Prynn erwachte, als ein zahnloser Mund ihre Brust berührte und daran zu saugen begann. Einen trägen, zeitlosen Augenblick lang glaubte sie, ihr Kind sei wieder bei ihr, der Kilkropf, wie die Hexenjäger es genannt hatten. Amos' Kind, nicht jenes andere, ungeborene Kind.
    Amos' Kind. Nicht Williams und Simons.
    Sie versuchte, die Hände zu heben, um den Kopf ihres Kindchens zu tätscheln, und stellte dabei fest,

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