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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zwischen Turminneren und Welt, seit die Hexenjäger sie hier eingemauert hatten. Sie versuchte, noch mehr zwischen den Steinen herauszubröckeln, aber Finger und Armstumpf waren nicht weniger brüchig als der uralte Mörtel. Doch es ging, wenn auch langsam. Falls auch die anderen ...
    Und mit einem Male wurde sie sich gewahr, dass die anderen schon hinter ihr kauerten. Sie wandte sich um und sah erstmals seit ewigen Zeiten - seit fünfhundert Jahren - wieder Gesichter.
    Gesichter, die nicht viel mehr waren als leere, blicklose Augenhöhlen, lippenlose Münder und faulige Schlitze an Stelle der Nase. Gesichter wie ihres.
    Aber aus diesen Gesichtern sprach hungrige Entschlossenheit. In diesen leeren Augen loderte Hass. Auf diesen lippenlosen Mündern lag wie ein Fluch der Name ihrer Peiniger.
    »Helft mir!«, flüsterte Marian Prynn.
    Die Welt war rot, rot, rot, und sie brannte und pochte und biss. Und sie hatte sich dort zu einem feurigen Klumpen zusammengeballt, wo vorher Anne Devlins Leib gewesen war - das Gefäß, das schützend ihr ungeborenes Kind umgab und es vor den Einflüssen einer Außenwelt abschirmte, der es jetzt, im siebten Monat seiner Existenz, noch nicht gewachsen war.
    Inmitten all der Qual gelang es Anne zu ihrer eigenen Überraschung, klare Gedanken zu fassen. Orientieren. Sie musste sich orientieren. Wenn sie nicht einmal wusste, wo sie sich befand, wie sollte sie dann begreifen, was ihr und ihrem Kind zugestoßen war? War etwa ihr Albtraum - wie immer er auch aussehen mochte - Wirklichkeit geworden?
    Sie schlug die Augen auf. Sie kauerte in sich zusammengesunken auf den Knien, auf dem Zottelteppich, auf halbem Wege zwischen Sessel und Fenster. Als sie die Hand hob, um sich die Stirn zu reiben, berührte sie mit zitternden Fingern schweißnasse Haut. In einem jähen Anfall von Panik schaute sie an sich herab, hinunter auf den wollweißen Teppich. O Gott, nein, bitte nicht das! Bitte nicht das! Aber bei einer Fehlgeburt hätte sie bluten oder zumindest Fruchtwasser verlieren müssen, aber der Teppich war immer noch makellos weiß. Das war es also nicht.
    Taumelnd kam sie wieder auf die Füße, wartete, bis der Schmerz ein wenig nachließ, und tastete sich dann instinktiv weiter zum Fenster. Aber als sie hinausblickte, sah sie nur noch die Rücklichter des Wagens, zwei feurige Kohlen im Nebel, um die Hausecke verschwinden. Sie konnte nicht einmal das Fabrikat des Wagens erkennen. Auf der abgewandten Hausseite quietschten Bremsen.
    In ihrem Kopf drehte sich immer noch alles. Sie stützte sich auf die Fensterbank und legte die Stirn gegen die kühle Scheibe, die sofort beschlug. Langsam begann sich ihr Denken wieder in geordneten Bahnen zu bewegen. Nach der blindwütigen Panik der letzten Augenblicke war das eine echte Wohltat.
    Unten schlugen Autotüren.
    Während sie so dastand und sich erholte, versuchte sie zu ergründen, was eigentlich geschehen war. Letztlich gab es nur eine Erklärung: Nicht ihr Kind hatte Schaden genommen, sondern es hatte ihr selbst diesen grässlichen Schmerz zugefügt. Vielleicht von der plötzlichen Bewegung seiner Mutter erschreckt, hatte es sich in der Fruchtblase gedreht und Anne dabei mit voller Wucht von innen gegen die Bauchdecke getreten, so fest, dass es ihr den Atem aus den Lungen trieb und ihr für wenige Sekunden regelrecht die Besinnung raubte.
    Dass so etwas vorkam, wusste Anne aus der Schwangerschaftsliteratur, die sie gelesen hatte. Aber ihr selbst war es bisher noch nie passiert, und sie hoffte auch sehr, diese Erfahrung nicht noch einmal machen zu müssen. Selbst jetzt waren die Schmerzen noch nicht vollständig abgeklungen.
    Stimmen ertönten irgendwo drunten, wahrscheinlich an der Eingangstür. Es wurde Zeit, dass sie hinunterging und Janice und Raven begrüßte. Eigentlich fühlte sie sich dazu noch nicht wieder in der Lage, aber wenn sie sich ein wenig zusammenriss und sich vor allen Dingen immer schön vorsichtig an der Wand entlang nach unten tastete ...
    Die Stimmen wurden lauter. Anne identifizierte eine davon als die Seymours. Die andere gehörte gleichfalls einem Mann; Janice' Verlobtem offenbar. Es klang, als stritten sich die beiden. Aber warum, um alles in der Welt, hätten sich Seymour und dieser Raven streiten sollen? Sie kannten sich ja nicht mal, hatten sich vorher nie gesehen!
    Wahrscheinlich spielten ihr bloß ihre überreizten Nerven einen Streich.
    Sie atmete tief durch und wankte dann mehr als dass sie ging, immer mit einer Hand an

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