Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Gewalt der Schüsse herumgerissen und zu Boden geschleudert. Auf der Brust seines weißen Nachthemdes erschienen drei kleine, rußgeschwärzte Löcher.
Und dann bewegte er sich, griff nach dem Schwert, das ihm beim Sturz aus den Fingern geglitten war, und stand auf ...
Thompson starrte mit hervorquellenden Augen auf das unglaubliche Bild. Lancelot kam mit ungelenken, steifen Schritten auf ihn zu, das Schwert zum letzten, tödlichen Schlag erhoben. Ein helles, durchdringendes Kreischen schien plötzlich in der Luft zu liegen, ein Ton, der Thompson das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er hatte dieses Geräusch schon einmal gehört - vor zwei Tagen, als Rouwland und sein Kumpan unter der mörderischen Klinge gestorben waren.
Und er wusste, was es bedeutete - den Tod.
Mit einem erstickten Aufschrei schleuderte er Lance den nutzlosen Revolver ins Gesicht und hetzte los.
Raven war nach seinem Abstecher in die Bibliothek direkt nach Hause gefahren. Im Moment konnte er nichts tun. So ungern er es auch zugab - er musste abwarten, dass die andere Seite ihren Zug in diesem blutigen Spiel machte. Die einzige Hoffnung, die er jetzt noch hatte, bestand darin, dass die Polizei Thompsons Versteck fand.
Aber Raven wusste, wie verschwindend gering diese Aussicht war. London hatte fast zehn Millionen Einwohner - einen einzelnen Mann, der ernsthaft untertauchen wollte, in diesem Dschungel aus Menschen und unübersichtlichen Straßen finden zu wollen, wäre wohl noch schwieriger, als die berühmte Stecknadel im Heuhaufen zu finden.
Nein - das Einzige, was ihm zu tun blieb, war darauf zu warten, dass sich Card meldete.
Der Nachmittag verging mit quälender Langsamkeit. Raven beschäftigte sich damit, das geheimnisvolle Buch näher in Augenschein zu nehmen. Nicht, dass er etwas damit anfangen konnte, aber die verschnörkelten, mit pedantischer Akribie gemalten Buchstaben faszinierten ihn. Vor allem die Illustrationen schlugen ihn in ihren Bann. Raven hatte schon viele Zeugnisse frühzeitlicher Kunst zu Gesicht bekommen, aber die Zeichnungen schienen in ihrer Art etwas Besonderes darzustellen.
Es waren im Prinzip immer die gleichen Motive: furchteinflößende Dämonen, grauenerregende Gespenstergestalten, Teufelsfratzen, die wehrlose Menschen in Angst und Schrecken versetzten. Und doch schien etwas Besonderes an diesen Bildern zu sein. Die Wesen waren so fremdartig gestaltet, so bizarr und doch irgendwie überzeugend, dass es Raven schwerfiel zu glauben, dass diese schrecklichen Ungeheuer wirklich der Fantasie irgendeines vormittelalterlichen Künstlers entsprungen sein sollten. Selbst ihm gelang es nicht, sich eines gewissen Schauderns zu erwehren. Je länger er auf die einfachen, in Holzschnitttechnik ausgeführten Zeichnungen starrte, desto stärker schien der beunruhigende Eindruck zu sein, den sie auf ihn ausübten. In seinem Denken schien sich langsam ein taubes, klammes Gefühl auszubreiten. Angst, aber auch noch etwas Anderes, etwas, das mit jenem namenlosen Entsetzen verwandt sein musste, das die Menschen damals beim Anblick dieser Bilder erfasst hatte.
Es fiel ihm schwer, sich von dem Buch loszureißen. Mit einem Male verstand er Wilburn: Selbst wenn der Inhalt dieses Bandes von der ersten bis zur letzten Seite erlogen war, stellte das Buch eine ungeheure Kostbarkeit dar.
Er stand auf, klappte das Buch zu und steckte es behutsam in seine Jacketttasche. Er würde den Band jedenfalls nicht vernichten. Selbst wenn er es gewollt hätte - beim Durchblättern hatte sich in ihm die Überzeugung gefestigt, dass er es gar nicht konnte. Wenn es sich wirklich um ein solch mächtiges Zauberbuch handelte, wie Biggs behauptet hatte, würde es sich sicher ganz gut zu schützen wissen - so albern der Gedanke anmutete.
Es dämmerte bereits, als Raven ans Fenster trat und auf die Straße hinuntersah. Es war ein bedrückendes, beunruhigendes Gefühl: Irgendwo dort unten schlich ein wahnsinniger Mörder durch die Stadt, ein Mann, der bereits fünf Menschenleben auf dem Gewissen hatte und der weitermorden würde, wenn sie seiner nicht habhaft wurden.
Raven überlegte, ob es Zweck hatte, Card anzurufen, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Der Inspektor würde sich melden, sowie er irgendetwas Wichtiges erfuhr.
Ein Wagen hielt vor dem Haus. Raven öffnete das Fenster und beugte sich neugierig nach draußen.
Es war Card. Die kleine, kurzbeinige und irgendwie tollpatschig wirkende Gestalt war unverkennbar. Raven sah, wie der Inspektor
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