Raven - Schattenreiter (6 Romane)
das Kriegshandwerk Tradition hatte. Zumindest ein männliches Mitglied jeder Generation war Soldat gewesen, ein guter Soldat sogar, und auch Charbadan hatte diese Reihe fortgesetzt. Und wenn es nach ihm ging, dann würde auch sein Sohn eines Tages die Uniform seines Landes anziehen.
Trotzdem hasste er diesen Krieg.
Er stand auf, reckte sich ungeniert und stieg mit umständlichen Bewegungen von dem Felsblock hinunter, den er als Aussichtsposten benutzt hatte. Das Lager lag eingekeilt zwischen zwei schroffen Berghängen am Ufer des Chat-el-arab. Dort drüben, wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, lag der Iran.
Vor Charbadans innerem Auge entstand für einen kurzen Moment eine Vision. Er sah Reiterhorden, Männer auf Pferden und Kamelen, Männer in erdbraunen Umhängen und prächtigen Rüstungen, die in einem glanzvollen Zug nach Osten ritten, um den Feind zu schlagen. Für einen Moment glaubte er sogar, den Lärm der Schlacht zu hören, das ungeheure, Erde und Himmel erschütternde Dröhnen, mit dem die beiden feindlichen Heere aufeinanderprallten, das Klirren von Stahl, Wut-, Kampf- und Schmerzensschreie.
Aber die Vision verging rasch wieder, und mit ihr verging das kurzlebige Hochgefühl, das sich in ihm ausgebreitet hatte.
Sein Blick wanderte zum Lager hinüber. Die Männer schliefen rund um das niedergebrannte Feuer. Hinter ihnen hockte ein riesiger, buckeliger Schatten. Der Panzer war eigentlich schon vor zwei Jahrzehnten für den Schrottplatz bestimmt und nur die halbe Zeit überhaupt einsatzfähig. Aber es war das Beste, was sie hatten. Und sie konnten von Glück sagen, dass sie überhaupt ein Fahrzeug erhalten hatten. Auch, wenn es darin tagsüber so heiß wie in einem Bratofen war und die Kanone wahrscheinlich beim ersten Schuss explodieren würde.
Dieser Panzer symbolisierte alles, was Charbadan an der modernen Art, Krieg zu führen, hasste. Er war ein Ungeheuer aus Stahl und Kraft, ein gepanzertes Monstrum, das den Krieg auf eine andere Ebene hob, eine Ebene, in der die Technik tonangebend war und in der der Mann nichts mehr galt. Die modernen Kriege wurden in den Labors und Konstruktionsbüros gewonnen, nicht auf dem Schlachtfeld.
Er hängte sich seine MPi über die Schulter, spuckte den Zigarettenstummel aus, auf dem er seit einer halben Stunde herumgekaut hatte, und begann seinen Rundgang um das Lager. Seine Stiefel erzeugten ein hartes, schallendes Echo auf dem Felsboden.
Eine der dunklen Gestalten um das Lagerfeuer regte sich, als Charbadan an ihr vorüberging. Er blieb stehen, versuchte im Dunkeln das Gesicht des anderen zu erkennen, und nickte schließlich unmerklich.
»Schlaf weiter«, flüsterte er. »Du hast noch Zeit.«
Sabid schien zu überlegen. Sein Gesicht war ein heller Fleck in der Dunkelheit, aber Charbadan konnte trotzdem erkennen, dass er müde und erschöpft wirkte.
»Ich habe sowieso die nächste Wache«, murmelte Sabid.
»Du kannst noch eine Stunde schlafen«, gab Charbadan zurück. In Wirklichkeit war seine Wachtperiode längst um. Aber Sabid hatte am vergangenen Tag den Panzer gefahren - bei den hier herrschenden Temperaturen eine Arbeit, die Charbadan nicht einmal seinem ärgsten Feind gewünscht hätte. Außerdem würde er sowieso nicht schlafen können. Seine Nervosität hatte sich nicht gelegt. Im Gegenteil - er spürte die Gefahr, diese namenlose, stumme Drohung, die sich hinter dem Schweigen der Nacht verbarg, mit beinahe jeder Sekunde deutlicher.
Sabid zog seinen Arm aus dem Schlafsack hervor, streifte den Ärmel zurück und sah auf die Uhr.
»Du lügst«, sagte er schließlich. »Ich hätte dich schon vor anderthalb Stunden ablösen sollen.«
Charbadan zuckte mit den Schultern. »Vergiss es! Ich kann sowieso nicht schlafen.«
Sabid stand trotzdem auf. Seine Bewegungen wirkten fahrig, und die Strapazen des vergangenen Tages hatten deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Aber der Blick seiner Augen war klar, als er neben Charbadan anlangte.
»Du spürst es auch, nicht?«, fragte er geradeheraus.
Charbadan nickte überrascht. »Du auch?«
»Ich bin unruhig, wenn du das meinst. Und ich habe Angst.« Sabid lachte nervös. Seine Stimme war eine Spur zu schrill. »Aber frag mich nicht, warum«, sagte er hastig.
Charbadan musterte ihn einen Augenblick lang und sah dann wieder die Berge an. Die Felsgrate wirkten plötzlich seltsam scharf und kantig. Die Schatten schienen tiefer geworden zu sein, und das Mondlicht hatte einen unwirklichen, harten Glanz
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