Ravinia
Facetten am eigenen Leib.
»Ich kann dich nicht vor den Konsequenzen deiner Taten beschützen.«
Er wand sich unter den Worten des alten Mannes wie eine vom Geparden bereits angefallene Gazelle im Todeskampf, wenn der Ãberlebensinstinkt immer noch zum unwillkürlichen Kampf gegen das Nicht-wahr-haben-Wollen bläst.
»Niemand kann das. Das weiÃt du.«
Noch ein DolchstoÃ. Nein. Eigentlich hatte Marcion es vorher gewusst. Er hatte alles zerstört in diesem Moment. In welchem Moment genau? Er überlegte. Als er den alten Bails, den guten alten Bails, vom Balkon gestoÃen hatte? Nein, nicht erst da. Er hatte es in dem Augenblick verbockt, als er sich dazu herabgelassen hatte, mit ebensolchen unlauteren Mitteln kämpfen zu wollen wie diejenigen, die ihn am liebsten für immer aus der Stadt jagen würden. In dem Moment, in dem sein Herz für einen Sekundenbruchteil die Bedeutung der Worte Stolz und Ehrbarkeit unter einer Schicht maÃloser Enttäuschung vergraben hatte.
Was hatte er doch alles für groÃe Pläne gehabt! Er hatte die Stadtvaganten endlich und ein für alle Mal in Ravinia etablieren wollen. Warum sollte ein Ort, der so entrückt erschien und zugleich ein so groÃes Maà an persönlicher Freiheit bot, eigentlich nur denjenigen zur Verfügung stehen, die durch eine Fügung von Geburt an ein übermenschliches Talent ihr Eigen nennen konnten? Sicher, man hatte ihm erklärt, dass es ausgerechnet jene waren, denen die Welt immer mit Misstrauen und Vorurteilen begegnet war, auf deren Höhepunkt Mord, Verbannung und Ãchtung standen. Aber die Welt hatte sich nicht geändert. Im Gegenteil, sie verachtete alles Andersartige mehr als je zuvor. Die Welt bot keinen Platz für schillernde, Hippiekleidung tragende Querdenker mit ihren Sammlungen philosophischer Bücher. Wer sich erdreistete, anderes Gedankengut in die Gesellschaft einstreuen zu wollen, hatte von Beginn an einen Stempelabdruck auf der Stirn prangen, der ihn als gefährlich, weil anders brandmarkte.
Er hatte gekämpft. Immer und immer wieder. Hatte nicht begreifen wollen, wie sich in einer Welt voll Andersartigkeit dieselben elitär-sozialen Muster auftaten wie dort, wo sie alle schlieÃlich herkamen. Wie konnte es sein, dass vor allem die Mitglieder des gottlosen Stadtadels von Ravinia ihrer eigenen Andersartigkeit nicht mehr gedachten und die Bedürftigkeit anderer nicht mehr sahen? Dabei hatte Marcion alles getan, um seine Position deutlich zu machen. Er hatte lange Vorträge vor dem Rat gehalten. Er hatte versucht, den Stadtvaganten wenigstens ein Mindestmaà an Ernsthaftigkeit einzutrichtern. Er hatte es ihnen vorgelebt.
Nur, was hatte es ihnen eingebracht? Nichts. Die Verachtung für die Vaganten behielt ihren Level bei. Seine letzte Hoffnung war es gewesen, die jungen, bisher nicht mit Vorurteilen belasteten Lehrlinge einer neuen Generation von seinen ungefährlichen, ja sogar vorteilhaften Absichten zu überzeugen.
Doch war dies genau der Moment gewesen, der von Meister St. Jamesâ ehemaligem, monstergleichem Schüler nicht besser hätte gewählt werden können. Er hatte ihn vor Jahren, am Abend nach einer weiteren Niederlage, aufgesucht und ihm von Roland Winter berichtet. Marcion durchschaute die hetzerischen Absichten dahinter zunächst, aber MaâHaraz war ein geschickter Redner gewesen, ein Verführer, ein Monster. Es ginge nicht um Anarchie. Es ginge um die Errichtung einer Art platonischer Diktatur der Weisen. Wie viel besser könnten die Stadtvaganten dastehen, wenn sie an diesem Fundament mitgebaut hätten? Man könnte endlich allen Andersartigen mit Würde begegnen.
Der hörende Kristall, den MaâHaraz ihm überlassen hatte, erfüllte seinen Zweck und erinnerte Marcion in seinem fanatischen Ãbereifer fortwährend daran, dass er vielleicht endlich, endlich nach all den Jahren, ein Ergebnis seiner Bemühungen zu sehen bekäme.
Dann kam es zu seiner ersten schicksalhaften Begegnung mit Lara McLane.
Zunächst suchte er Bails auf. Den guten alten Bails, der seinen Unterhalt damit verdiente, Informationen zu verkaufen. Und Bails war immer und über beinahe alles informiert. Er war ein Quell der Verlässlichkeit und deshalb wohl indirekter Drahtzieher von mindestens einem Dutzend brillanter krimineller Coups der letzten Jahrzehnte. Woher Bails seine Informationen bekam, wusste niemand, und
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