Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
verschwinden.
Die Falkgreifer kreisen so hoch in der glasklaren
Luft, dass sie wie winzige Punkte erscheinen. Noch immer rieseln weiße Fetzen
herab. Sie tanzen wie Schneeflocken.
Winter im Sommer.
Dann ist auch das vorbei.
Ein letztes Stück Papier segelt nieder.
Es dreht sich dabei im Kreis wie ein verletzter
Schmetterling.
Stille überzieht das Dach. Sie schmerzt tief in
meinem Innern. Mit einem Ruck drehe ich den Kopf zur Seite, wische mir
verstohlen mit dem Handrücken über die Augen.
»Wir müssen dann auch«, sagt Connor.
Ich nicke.
Er legt die Hände an die Greifreifen und rollt zu
dem gemauerten Fahrstuhlschacht neben dem Treppenaufgang. Sein Daumen wandert
an die Leiste mit den schwarzen Knöpfen. Der Fahrstuhl kommt zurück, die
Lämpchen blinken, … fünf, sechs, sieben
…, die Schiebetür öffnet sich, und ich folge Connor in den dunklen,
stählernen Schlund.
Wir schweigen.
Und fallen.
Am liebsten würde ich Connor anbrüllen.
Im vorletzten Stockwerk drückt er die Stopp-Taste.
Er verharrt, vorgebeugt und mit ausgestrecktem Arm an der Konsole abgestützt.
Sieht mich nicht an.
»Sag was!«
Ich schweige.
Er wartet.
Die Sekunden werden für mich zur Ewigkeit.
Er dreht den Kopf zur Seite, blickt mich an. Seine
Augen funkeln blauschwarz als hätte er Drogen genommen. Seine Oberlippe zuckt.
»Was wirfst du mir vor?«
»Nichts«, flüstere ich.
Er saugt die Luft scharf ein, bis sein Brustkorb
das graugrüne Shirt spannt, dann bläst er hörbar ganz langsam aus. »Du musstest
nicht mit ansehen, wie die Biester fünf Leute umgebracht haben. Sie sind
einfach mit ihnen in die Luft geflogen und haben sie wie einen Mehlsack fallen
lassen. Einen nach dem anderen. Die ganze Zeit hatte ich meinen eigenen Tod vor
Augen. Damals habe ich mir geschworen, sie bis in den letzten Winkel zu jagen –
sollte ich überleben.«
Connor schluckt, dreht den Kopf zurück zum
Bedienelement des Fahrstuhls. »Bist du dir wirklich sicher, dass du ein Gill
werden willst?«, sagt er mit leiser, rauchiger Stimme.
»Sie werden uns sicher in der Ausbildung auf das
Töten vorbereiten«, weiche ich aus.
Er schüttelt den Kopf. »Da täuschst du dich.
General Stone ist ein Arschloch. Er lässt gerne unerfahrene Rekruten solche
Exekutionen machen. Sie treffen ungenau. Dann müssen sie nachladen … die Gewehre
fassen immer nur eine Patrone. Volle Absicht. In ihrer Panik wissen die Männer nicht,
wie das geht. Die ganze Zeit schreit der Gefangene vor Schmerz und windet sich.
Dann der zweite Schuss. Ich habe Anwärter gesehen, die sich dabei in die Hose
gepinkelt haben. Manche brauchten drei Projektile.«
Connor hält sich die Ohren zu. Seine Finger
zittern. »Das Schreien kriegst du nie wieder aus deinem Kopf.«
Spontan lege ich eine Hand auf seine Schulter. »Du
hast ihn sofort erlöst.«
Er zuckt kaum merklich zusammen. Dann drückt er
endlich den Fahrstuhlknopf. Mit einem Rums landet die Kabine.
Mein Kopf fühlt sich an wie gewaltsam unter eine
gläserne Glocke gestopft. Ich atme tief ein, aber das Ohnmachtsgefühl bleibt.
Vor dem Klassenraum fasst Connor nach meinem Handgelenk.
»Ich gehe nicht mit rein«, sagt er. »Meine Tarnung
ist aufgeflogen. Jeder fragt sich, was ich als ehemaliger Gill in der Klasse zu
suchen habe. Wie gesagt, der General war schon immer ein Arsch.«
»Was wirst du jetzt machen?«
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht doch Bürodienst?«
»Ich überleg es mir.«
»Connor?«
»Ja.«
»Können wir noch mal über alles reden?«
»Die ganze Scheiße hier?«
Ich nicke.
»Komm bei mir vorbei. Zimmer 28 A.«
»Werde ich.«
Fieber
W ir haben noch fünfzehn
Minuten Unterricht. In der Zeit sollen wir die Diskussion vom Morgen
schriftlich zusammenfassen. Ich weigere mich zur Tagesordnung überzugehen und
starre auf das leere Blatt. Endlich gongt es.
Sport bei
Erikson.
Das Herz wird mir noch schwerer. Finn Erikson,
dieser Mensch bleibt mir unbegreiflich. Wie konnte er so ruhig den Falkgreifer
zur Hinrichtung bringen? Hat er nicht gesagt, dass wir gerechter handeln
müssen? Das hätte jedoch bedeutet, den Gefangenen zu verschonen.
Übersiehst
du nicht etwas?, zetert die rebellische Stimme in mir. Der Falkgreifer ist vorher brutal misshandelt worden. Was glaubst du,
wer das getan hat?
Erikson war das nicht, widerspreche ich.
Geh zu ihm
hin, frag ihn! Dann weißt du es.
Aber das scheint mir unmöglich. Ich gebe zu, dass
mir der Mut dazu fehlt, ihn zu fragen, denn der Mann macht mir
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