Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
Angst. Er lässt
sich nicht hinter die Stirn blicken. Die meiste Zeit redet er in Rätseln. Und
er hat gesagt, dass ich ganz allein sei, wenn es darauf ankäme. Ich könne von
niemandem Rückhalt erwarten.
Traurig trotte ich den anderen hinterher.
Meine Beine sind schwer und ich bin so erschöpft
wie noch nie. Mir wird bewusst, dass ich mittlerweile das Schlusslicht bilde.
Babette dreht sich nach mir um.
»Wo bleibst du?«
Sie klingt fröhlich und unbeschwert. Wie immer
sieht sie gut aus, heute trägt sie eine enge Jeans und dazu eine schneeweiße
Bluse. Ihr Haar liegt perfekt. Es glänzt selbst unter den kalten
Leuchtstoffröhren golden. Zwei Mädchen umschwirren sie kichernd und himmeln sie
an, als sei sie eine Göttin. Auch Kai ist bei ihr. Er hat sie untergehakt. Als
er bemerkt, dass sie sich nach mir umdreht, zieht er sie energisch weiter.
Babette, Kai, Fred mit den Zimtsommersprossen –
sie alle wirken auf mich befremdend normal ,
als wäre die Welt gut. Irgendwer murrt, er habe keine Lust auf Sport. Jemand
anderes stöhnt, Erikson würde sie schikanieren. Sie lachen und äffen nach, wie
der Lehrer im barschen Kommandoton die Befehle erteilt.
Es ist nicht zu übersehen, dass Erikson ein Gill
ist, denke ich. Er wurde für die Suche und Vorbereitung geeigneter Anwärter ans
Erntelager abkommandiert.
»Zwanzig Liegestütze! Ich will sehen, wie der
Schweiß rinnt«, brüllt Kai. Die anderen lachen.
Denkt denn niemand mehr daran, was vor nicht
einmal einer Stunde auf dem Dach passiert ist? Okay, der Gefangene war der
letzte Abschaum, eine blutrünstige Bestie, und er hatte es sicher nicht besser
verdient. Wer weiß, wie viele Menschen er getötet hat. Aber trotzdem bedrückt
mich seine Exekution.
Sie macht mich traurig und ratlos.
Es ist ein verwirrendes Unrechtsgefühl, das auf
mir lastet.
Wir Menschen
töten auch.
Ich bin …
so müde.
Mir ist auf einmal heiß, ich habe Durst und meine
Zunge schmerzt. Kaum weniger schlimm ist das Gefühl in meinen Beinen. Sie
kribbeln und sind zugleich bleischwer. Mit jedem Schritt fühle ich mich
schlapper. Jetzt beginnen auch noch meine Fingerspitzen zu prickeln.
Plötzlich liege ich am Boden, meine Wange berührt
den kühlen Untergrund. Wieso sind die Eichendielen so kalt wie Eis? Wir haben
doch Sommer – Holz dürfte nicht kalt sein. Wie bin ich eigentlich hierhin
gekommen? Vielleicht bin ich gestolpert und mit dem Schädel aufgeschlagen. Ja,
das wird es sein, ich muss für eine Sekunde das Bewusstsein verloren haben. Der
Kopf ist schwer wie ein Zementsack und mein Hals brennt. Ich kann nicht schlucken,
meine Zunge klebt am Gaumen. Vorsichtig stütze ich mich auf und sacke erneut
weg.
»Hey, was ist mit dir?« Barbettes Kopf taucht über
meinem auf. Sie runzelt die Stirn und streckt die Hand nach mir aus. Ich lasse
mich von ihr und einem weiteren Jungen hochziehen. Noch immer ist mir
schummrig. Am liebsten möchte ich mich sofort wieder hinlegen. Ich reiße die
Augen auf, konzentriere mich auf das flackernde Licht einer Flurlampe, doch der
Schwindel will nicht verschwinden.
»Was hat sie?« Erikson steht plötzlich neben mir.
Er fasst an meine Stirn, hakt mich unter.
»Es geht gleich wieder«, murmele ich.
»Das bezweifele ich.«
Links greift der Zimtsommersprossige nach meinem
Arm. Oh nein, ich will das nicht. Er soll gehen. Er riecht nach Leberwurstbrot.
Mir wird schlecht. Unter meinen Füßen gleitet der Boden vorbei. Im hintersten
Winkel meines Kopfes begreife ich, dass sie mich übers Parkett schleifen. Mein
Kopf hängt vornübergebeugt.
Das Holz in meinem Blickfeld weicht irgendwann
schwarzen und weißen Kacheln. Schwarz. Weiß. Schwarz. Das Mosaik verschwimmt
vor meinen Augen. Die dunklen Fliesen scheinen mich anzuglotzen wie die
Pupillen unzähliger Dämonen.
Endlich liege ich.
Will nur noch schlafen …
Aus weiter Ferne höre ich die Stimme von Frau
Kasten: »Kindchen, haben Sie ihn geküsst? Glauben Sie etwa, ich weiß nicht, was
hier vor sich geht? Natürlich ist er ein Wolfer. Mir machen Sie nichts vor.
Wenn Sie ihn geküsst haben, dann Gnade Ihnen Gott, dann kann Ihnen nichts und
niemand mehr helfen…«
Um mich wird alles dunkel.
Ich falle in unendliche Schwärze.
Aus einem todesähnlichen Schlaf schrecke ich
Sekunden oder Tage später hoch. Wie viel Zeit vergangen ist, vermag ich nicht
zu erkennen. Ich kann mich nicht rühren und nicht schlucken. Etwas Kaltes
berührt meine Stirn. Mit unendlicher, schweißtreibender Kraftanstrengung
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