Raylan (German Edition)
tat.«
»Allerdings haben mir alte Freunde von ihm, Männer, die mit ihm zur Jagd gegangen sind, erzählt, dass Otis niemand war, der mit seiner Flinte danebenschießt.«
»Tja, an diesem Abend aber eben schon«, sagte Carol und fügte in belehrendem Tonfall hinzu: »Niemand ist perfekt, Raylan. Weder Sie noch Otis, noch Otis’ Freunde. Otis ist im Himmel, zusammen mit seinen alten Kumpels aus der Mine. Kohlekumpel werden alt und sterben eben daran, dass sie Kohlekumpel sind.«
»Aber solange sie noch am Leben sind«, sagte Raylan, »haben sie das Recht, am Leben zu bleiben.«
Das Gespräch im Aufzug beschränkte sich darauf, dass Boyd sagte: »Der Mann lässt nicht locker, was?«
Sie hatten das Gebäude bereits verlassen und den Parkplatz fast überquert, als Carol wieder den Mund aufmachte: »Es ist vollkommen unmöglich für ihn zu beweisen, dass du Otis erschossen hast.«
Boyd sagte: »Ich habe Otis ja auch nicht erschossen. Das waren Sie.«
Sie sagte: »Macht das einen Unterschied? Du hast dagestanden und zugesehen.«
Boyd bezahlte die Parkgebühr und setzte sich hinters Steuer, überrascht, dass Carol auf dem Rücksitz Platz genommen hatte. Auf der Hinfahrt hatte sie neben ihm gesessen, hatte allerdings die meiste Zeit, ohne dabei jemals laut zu werden und ganz Miss Company, irgendjemanden am Telefon fertiggemacht. In seiner neuen Funktion als Chef der Konfliktbereinigung hatte sie ihm immer noch nichts zu tun gegeben.
Boyd fragte: »Haben Sie Angst, dass ich mir im Büro der Marshals Lepra geholt habe?«
»Ich versuche, mich zu erinnern«, sagte Carol, »wohin du gefeuert hast, als ich dir befohlen habe, das Gewehr leer zu schießen.«
»In die Luft. Sie haben doch zugesehen. Mit keinem Wort haben Sie mir gesagt, dass ich auf den Trailer schießen soll.«
Das konnte sie nicht leugnen. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Ich werde zu keiner weiteren Vernehmung gehen. Weißt du eigentlich, dass sie mitgeschnitten haben? Nein, weißt du nicht. Sie haben dein ganzes Gestammel aufgenommen. Man kann ja durchaus überrascht tun und ein bisschen rumstammeln, aber nur, wenn man weiß, was man als Nächstes sagen will.«
»Ist Ihnen eigentlich aufgefallen«, sagte Boyd, »dass ich die leeren Patronenhülsen neben Otis gelegt habe, damit’s realistischer aussieht?«
Boyd sah sie im Spiegel lächeln. Er glaubte, dass ihr seine sorglose Einstellung gefiel, aber übertreiben durfte er’s nicht. Sie war fast ein netter Mensch, wenn sie mit ihm zufrieden war. Wenn nicht, regte sie sich wegen Nichtigkeiten unsäglich auf und drohte, ihn zu feuern. Er glaubte allerdings nicht, dass sie versuchen würde, ihm den Mord an Otis anzuhängen, sie wusste, dass er in dem Fall zurückschlagen und sie mit reinziehen würde. Dann hätte sie viel im Gericht zu tun und zu wenig Zeit für ihren eigentlichen Job: Leuten das Leben zur Hölle zu machen.
Was er brauchte, war ein Druckmittel gegen sie. Um sie zu stoppen, wenn sie mal wieder ihre fiesen fünf Minuten hatte.
Boyd fragte sich, ob er Raylan dazu bringen könnte, sich auf seine Seite zu stellen, ohne dass er dafür Carol ans Messer liefern musste. Vielleicht könnte er ihn daran erinnern, wie sie gemeinsam gestreikt und erlebt hatten, wie die Kohlekonzerne die Bergarbeiter verarschten. Vielleicht könnte er ihm erzählen, wie schwer es ihm zunehmend fiel, für Carol zu arbeiten. Scheiße, eigentlich war es wie früher bei Duke Power. Erinnerst du dich noch an die Zeit, als wir zusammen auf den Barrikaden standen? Vielleicht könnte er ihm sagen, dass es ihn von innen auffraß, für Carol zu arbeiten.
So was in der Art.
Er ließ den Motor an und fragte den Spiegel: »Wohin geht’s?«
»Zum Büro«, sagte Carol. »Falls ich dich nicht brauche, hast du den Rest des Tages frei.«
»Heißt, ich muss die ganze Zeit im Wagen warten.«
»Du kannst nicht anders, du bist und bleibst ein Klugscheißer, oder?« Dann sagte sie: »Ich muss mir noch Otis’ Witwe vom Hals schaffen, Marion Culpepper, bin die Woche über nicht dazu gekommen. Dein Job als Chef der Konfliktbereinigung ist es, sie dazu zu bringen, unsere Vereinbarung zu unterschreiben, laut der wir ihr monatlich fünfhundert Dollar überweisen. Sag ihr, dass wir ihre Sozialversicherung erhöhen, und gib ihr den Fahrzeugschein für ihr neues mobiles Zuhause in Benham. Hat sogar einen Boiler.«
»Muss ich dafür bis nach Harlan runterfahren?«
»Im Moment ist sie hier in Lexington, wegen dem teuren Pflegeheim
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