Rebecca
Augenblick irritiert, weil ich das Gespräch in eine andere Richtung lenkte. »Ja, genau wie Reinout«, sagte sie dann. »Aber der war ein paar Jahre älter, deshalb bekam er den Praktikanten.«
»Ich wusste gar nicht, dass es in Leeuwarden so viel zu rangieren gibt.«
»Oh, da irren Sie sich aber.« Ich hatte ihre Stadt beleidigt. »Das war noch der alte Bahnhof, da gab es ein großes Rangiergelände. Von hier gehen vier Bahnstrecken aus, eine nach Harlingen, eine nach Zwolle, eine nach Sneek und Stavoren und eine große nach Groningen und Deutschland. Außerdem gibt es viel Güterverkehr.«
»Passieren häufiger Unfälle?«
»Nein, nicht beim Rangieren zumindest. Das waren doch alles erfahrene Männer damals, vor allem Reinout, der war schon seit über zwanzig Jahren im Beruf. Ich hatte ja auch immer so meine Zweifel an der ganzen Sache.«
»Ach, Sie meinen, es war gar kein Unfall?«
»Natürlich nicht.«
»Hat Ihr Mann gesehen, wie es passiert ist?«
»Er war ganz in der Nähe. Er hat dann den Zug zurückgesetzt.«
»Aber er hat es nicht richtig gesehen?«
»Nein, er stand auf der anderen Seite«, musste sie zugeben und biss sich voller Groll auf die Lippen, als werfe sie dem verstorbenen Gertjan noch immer vor, an diesem Punkt versagt zu haben. »Er hörte Reinout schreien. Der junge Mann stand heulend daneben und behauptete, Reinout sei gestolpert und er habe ihm nicht mehr helfen können. Reinout, gestolpert? So ein Quatsch!«
»Sie halten das für unmöglich?«
Sie nickte entschieden. »Gertjan wusste genau, dass der junge Mann log und dass er Reinout vor den Waggon gestoßen hatte. Das hat er auch ausgesagt, aber er konnte natürlich nichts beweisen und die Polizei glaubte dem jungen Mann und ließ ihn laufen.«
»Reinout sagt selbst, dass niemand etwas dafür konnte.«
»Reinout ist immer schon blind gewesen.«
Ich griff nach meinem Notizbuch, ließ es aber stecken, weil ich rechtzeitig begriff, dass ich damit ihren Redefluss unterbrochen hätte. »Aber warum hätte der Praktikant seinen Ausbilder vor den Zug stoßen sollen?«
»Na, wegen der Frau seines Ausbilders natürlich.« Sie sprach das Wort ›Ausbilder‹ äußerst abfällig aus, als hielte sie es für einen albernen Ausdruck, der hier in der Gegend ungebräuchlich war. »Der junge Mann war noch keinen Monat hier, da hatte sie ihn schon verführt, im Haus seines ›Ausbilders‹. Die halbe Stadt wusste Bescheid.«
»Alle außer Reinout?«
Ich dachte schon, Saekeltsje würde in Tränen ausbrechen, aber sie griff nur nach einem Taschentuch, um sich die Nase zu schnäuzen.
»Meine Güte nochmal«, sagte sie dann. »Er war so ein netter Mann, viel zu gut und vertrauensselig. Manche Leute sind ja regelrecht naiv, wissen Sie. Selbst wenn es ihm jemand erzählt hätte, er hätte es nicht geglaubt. Gertjan wollte ihn nicht unglücklich machen, schließlich war er sein Freund und ich wollte mich da nicht einmischen.«
Wieder setzte sie ein frommes Gesicht auf. »Das kann ich gut verstehen«, sagte ich. »Aber geht es nicht ein bisschen zu weit, jemanden vor einen Zug zu stoßen, weil man ein Verhältnis mit dessen Frau hat?«
»Für normale Leute wie Sie und mich vielleicht, die wissen, was Anstand ist. Aber Anke war eine Teufelin. Sie wollte Reinout loswerden, glauben Sie mir. Dieses Weib konnte jeden Mann um den Finger wickeln, ganz besonders so einen Grünschnabel, der vier, fünf Jahre jünger war als sie. Er fand immer eine Ausrede, um Reinout nicht zu seinen Billardabenden begleiten zu müssen, und wenn Reinout zu Hause war, trieben sie es oben, während er vor dem Fernseher saß. Sie hatten geplant, zusammen durchzubrennen. Nach dem Unglück tat der Kerl so, als wäre er ganz außer sich und als wolle er nicht mehr bei der Bahn arbeiten. Sobald die Polizei mit ihm fertig war, machte er sich aus dem Staub, und es ist ja nun leicht zu erraten, warum auch Anke eine Woche später verschwunden war. Und das, obwohl ihr Mann im Koma lag, das muss man sich mal vorstellen. Sie war clever genug, um zu begreifen, dass sie nicht in Leeuwarden bleiben und diesen Kerl im Haus behalten konnte, das wäre ja zu auffällig gewesen. Also haben sie sich anderswo getroffen, da bin ich mir ganz sicher. Reinout bekam die Scheidungspapiere ins Krankenhaus geschickt. Es bricht einem das Herz, wenn man sich in den armen Mann hineinversetzt. Keine Ahnung, ob sie noch mit diesem Kerl zusammen ist, aber Reinout hat sie jedenfalls fallen gelassen.«
Roelof
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