Rebecca
gewohnt?«
»Nein, das ging nicht mehr. Sjoerd und seine Frau haben ihn für eine Weile bei sich aufgenommen. Sie taten es aus Freundschaft, aber das ging natürlich nicht lange gut. Normalerweise erholen sich die Leute nach einem solchen Unfall allmählich, aber bei Reinout war es genau umgekehrt. Mit ihm ging es immer weiter bergab. Es war wohl dieser große Kummer, dieser Verrat. Das fraß ihn innerlich auf. Irgendwann landete er dann hier. Und jetzt liegt er in diesem Bett und wird nicht wieder aufstehen.«
Ich nickte. Ein Familiendrama. »Wissen Sie etwas über Ankes Schwester, Frauke?«
»Wenig. Zuletzt habe ich sie auf der Hochzeit gesehen. Da war ich mit dem ganzen Billardclub. Ich kann mich nur noch erinnern, dass sie sich ordentlich einen gezwitschert hat. Sie wohnte in Harlingen. Die Schwestern verstanden sich nicht besonders gut, vielleicht waren sie eifersüchtig aufeinander. Sjoerd behauptete, Frauke sei diejenige mit Grips im Kopf, und Reinout sagte gelegentlich, dass er besser sie geheiratet hätte. Anfangs hat sie ihn wohl noch hin und wieder besucht, aber das war vor meiner Zeit.«
»Hat sie ihm nie etwas von Douwe erzählt?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Ich lehnte mich zurück. Gerben musterte mich mit unsicherer Miene. Irgendwo im Haus wurde das Radio eingeschaltet und Popmusik drang gedämpft durch Wände und Flure. Ich zerrte an dem Zellophan, um ein Plätzchen rauszukriegen; diese kleinen, hermetisch verpackten Sachen sind ja immer furchtbar widerspenstig.
»Was passiert denn jetzt weiter?«, fragte Gerben.
»Keine Ahnung. Es geht hier um Dennis.«
»Um wen?«
»Entschuldigung. So heißt Douwe jetzt, seine Adoptiveltern haben ihm einen anderen Namen gegeben.«
Gerben sah mich kopfschüttelnd an. »Vor dreiundzwanzig Jahren hätte man vielleicht noch manches ändern können«, sagte er. »Wenn Reinout eine gute Frau gehabt hätte, die zu ihm gehalten hätte, und einen Sohn, etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Aber er hatte nichts. Ich habe Ihnen seine Geschichte nur deswegen erzählt, damit Sie verstehen, warum wir ihn mit nichts mehr behelligen wollen. Er ist ein einsamer Mann und eigentlich schon so gut wie tot, ermordet. Ihm reichen der Fernseher und seine paar Freunde. Die rangieren ihn vorsichtig in seinen letzten Bahnhof. Damit hat er schon längst seinen Frieden gemacht.«
Ich nickte. »Wie ist der Unfall eigentlich passiert?«
»Er wurde zwischen einem Prellbock und einem Güterwaggon eingeklemmt. Reinout redet nicht gern darüber. Es hat damals ausführlich in der Zeitung gestanden.«
»Hat es denn Zeugen gegeben?«
»Ja, einen Kollegen und einen Lehrling, der bei ihm ein Praktikum machte, aber sie konnten das Unglück nicht verhindern. Reinout meint, dass so etwas jedem irgendwann passieren kann, sogar einem Rangierer mit zwanzig Jahren Berufserfahrung.«
»Wissen Sie zufällig, wie der Kollege und der Lehrling hießen?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Es würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, Ihnen das zu erklären, deshalb nur so viel: Ich suche nach einer Erklärung beziehungsweise einem Motiv für das, was Douwe momentan so treibt.«
Gerben schnaubte. »Aber damals war Douwe doch noch gar nicht auf der Welt.«
Ich nahm mein Notizbuch vom Tisch und legte es auf meinen Schoß. »Bitte sagen Sie mir die Namen trotzdem.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie der Lehrling hieß, weiß ich nicht, aber der Kollege hieß Gertjan Smit. Sein Name stand auch in der Zeitung. Er sagte, es sei ein unglücklicher Zufall gewesen.«
Ich notierte mir den Namen. »Wissen Sie auch, wo er wohnt?«
»In Leeuwarden. Er war damals etwas über vierzig, in demselben Alter wie Reinout, also wird er inzwischen wohl pensioniert sein.«
»Danke.« Ich steckte mein Notizbuch ein. »Das war alles. Ich denke, ich werde Ihre Zeit nicht noch einmal in Anspruch nehmen müssen.«
Er stand auf. »Ich bringe Sie noch zum Ausgang.«
Wieder liefen wir durch die Flure. Die Tür von Barends Zimmer stand immer noch offen. Gerben grüßte eine Besucherin, die eine flache Schachtel an sich gedrückt hielt. Auf der Vorderseite war ein Farbfoto zu sehen: azurblauer Himmel, eine kleine Kirche, ein dunkelbraunes Chalet, weiße Berggipfel. 400 Teile. Ein nicht zu kompliziertes Puzzle für ihren Vater, ihren Mann oder einen kranken Bruder.
Wir gingen durch die Glastür nach draußen. Einige Patienten hatte man in ihren Betten unter die orangefarbenen Sonnenschirme vor ihren Zimmern geschoben, wo sie
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