Rebecca
auf die Zeder starrten.
Gerben schüttelte mir die Hand. »Ich bringe Reinout jetzt mal an die frische Luft und erzähle ihm, Sie wären ein früherer Mitschüler von mir aus der Berufsschule.«
Ich lächelte. »Was war das übrigens, kurz bevor wir hinausgingen?«, fragte ich. »Er sagte irgendetwas und Sie antworteten, dass man irgendwelchen Leuten Zeit lassen müsse.«
»Ach so.« Gerben lachte. »Das hat etwas mit einer seiner großen Illusionen zu tun. Er hoffte, Sie kämen von einem Verlag.«
»Geht es um seine Bücher?«
Er nickte mitleidig. »Ja, um sein letztes Manuskript, er hatte es gerade fertig, als der Unfall passierte. Es ist ein Roman über eine sehr schöne und wahnsinnig geheimnisvolle Frau, die aus dem Wattenmeer an Land gespült und von einem alternden Junggesellen aufgenommen wird. Anke natürlich, wie sie hätte sein sollen. Vor einer Weile sagte Sjoerd dummerweise, er fände die Geschichte sehr rührend, und seitdem muss er es einem Verlag nach dem anderen schicken. Reinout kann ganz schön beharrlich sein.«
»Aber niemand will das Buch haben?«
»Ach, die Handlung ist äußerst verzwickt und das Manuskript schon fünfundzwanzig Jahre alt. Es müsste um die Hälfte gekürzt werden und wäre dann immer noch ein dicker Schinken. Wir hatten schon die Idee, es von Sjoerd lektorieren zu lassen, dann Geld zu sammeln und damit an die hundert Exemplare davon drucken zu lassen. Das feiern wir dann ganz groß und Reinout kann zufrieden in seine Endstation einfahren.«
Typisch lakonischer Friese.
Auf der Terrasse eines Lokals in der Innenstadt, umgeben von Büromenschen in der Mittagspause, aß ich ein kompliziertes vegetarisches Fitness-Sandwich für 6,35 Euro. Dazu bestellte ich ungesunden Kaffee und rauchte zur zweiten Tasse eine tödliche Zigarette. In dem halbdunklen Flur zu den Toiletten hing ein Telefon an der Wand. Im Telefonbuch auf dem Regal darunter standen mehrere Smits, davon zwei, deren Vorname mit einem G begann.
Der erste war ein Kommunalbeamter, den ich laut seiner jugendlich klingenden Frau in der Abteilung für Stadtplanung im Rathaus erreichen konnte. Unter der zweiten Nummer meldete sich wiederum eine Frau, diesmal mit einer älteren, ziemlich giftig klingenden Stimme. Ich nannte meinen Namen und erklärte, ich sei auf der Suche nach einem gewissen Gertjan Smit.
»Das ist mein Mann.«
»Er arbeitet doch bei der Bahn oder ist er inzwischen pensioniert?«
»Gertjan ist letztes Jahr gestorben.«
Eine Sackgasse. Ich seufzte frustriert und sagte höflich: »Oh, mein Beileid, Mevrouw.«
»Weshalb wollten Sie ihn denn sprechen?«
Eine dicke Dame kam durch den Flur und ich musste mich gegen die Telefonablage pressen, um sie vorbeizulassen. Die Toilettentür fiel hinter ihr zu. »Ich hatte gehofft, Ihr Mann könne mir etwas über einen Unfall erzählen, der vor vierundzwanzig Jahren auf dem Rangierbahnhof hier in Leeuwarden passiert ist.«
»Ach, die Sache mit Reinout Barends«, sagte sie prompt.
»Vielleicht kennen Sie ja jemand anderen, der mir darüber Auskunft geben könnte?«
»Was möchten Sie denn wissen?«
»Ich ermittle in einem anderen Fall und war zwar schon bei Meneer Barends im Pflegeheim, aber er kann kaum sprechen. Sein Pfleger nannte mir den Namen Ihres Mannes.«
»Ja, mein Gatte war damals dabei. Und dieser junge Mann natürlich.«
Letzteres klang abfällig. »Meinen Sie den Praktikanten?«
»Toller Praktikant.« Ihre Verachtung troff durch den Telefonhörer.
Sie weckte meine Neugier. »Ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten, Mevrouw«, sagte ich. »Zufällig bin ich gerade in der Stadt. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz bei Ihnen vorbeischaue?«
»Sie können gerne kommen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wo der junge Mann ist, ich weiß nicht mal, wo er herkam. Die Polizei konnte ihm nichts nachweisen und er ist am Tag nach dem Unglück abgehauen.«
Die Polizei? »Können Sie sich noch daran erinnern, wie er hieß?«
»Das werde ich nie vergessen. Roelof Welmoed.«
Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen.
»Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen«, sagte ich.
Weise Männer haben mich gelehrt, dass man durch geduldiges und hartnäckiges Wühlen in scheinbar zusammenhanglosen Abläufen und Geschehnissen irgendwann doch auf einen Zusammenhang stößt, der oft unsichtbar unter der Oberfläche schlummert, aber immer schon da war. Eines Tages schlägt man mit der Spitzhacke dieses letzte Stück Felsen weg und das
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