Rebecca
Hoteleingang anhielt.
«Nehmen Sie es mit und lesen Sie drin, wenn Sie wollen», sagte er. Seine Stimme war wieder kühl und gelassen, jetzt, da die Fahrt vorüber und Manderley viele hundert Meilen entfernt war.
Ich freute mich und umklammerte das Bändchen zusammen mit den Handschuhen. Ich wollte nach diesem Tag etwas haben, das ihm gehörte.
«Auf Wiedersehen», sagte er, «ich muß den Wagen noch zur Garage bringen. Ich werde Sie abends im Speisesaal nicht mehr sehen. Ich esse auswärts. Aber danke für den heutigen Tag.»
Ich stieg allein die Treppe zum Hotel hinauf, mit der ganzen Niedergeschlagenheit eines Kindes, wenn ein schöner Ausflug vorüber ist. Der Nachmittag hatte mich für die Stunden, die noch blieben, verdorben, und ich dachte, wie lang es mir vorkommen würde, bis es Zeit zum Schlafengehen war, und wie öde mein einsames Abendessen. Ich brachte nicht den Mut auf, mich den Fragen der Pflegerin dort oben auszusetzen oder Mrs. Van Hoppers Neugier, und ich setzte mich daher in eine Ecke des Gesellschaftszimmers hinter eine Säule und bestellte mir Tee.
Der Kellner schien gelangweilt; kein Grund zur Eile, da ich ja allein war. Überdies war es gerade jene sich endlos dahinschleppende Tageszeit, kurz nach halb sechs, wenn der Hoteltee vorüber und die Cocktailstunde noch fern ist.
Ich fühlte mich ziemlich verlassen und mehr als ein wenig unzufrieden. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und griff nach dem Gedichtband. Das Buch sah zerlesen und abgenutzt aus und öffnete sich von selbst an einer offensichtlich häufig aufgeschlagenen Stelle.
‹Ich floh vor ihm durch Dunkelheit und Licht
Und durch der Jahre Bogengang.
Des Grübelns viel verschlungenen Pfad entlang Floh ich vor ihm. Der Tränen Schleier nicht Und nicht des Lachens Fluß verbarg mich ihm.
Der Hoffnung steilen Berg hinan
Stürzt’ ich, und strauchelnd fiel ich dann
In Grüfte tief, wo Furcht mit Schwermut stritt.
Doch näher, immer näher klang sein schwerer Schritt.›
Ich kam mir vor wie jemand, der durch das Schlüsselloch einer verschlossenen Tür blickt, und mit etwas schlechtem Gewissen legte ich das Buch aus der Hand. Was für ein Gespenst der Vergangenheit mochte ihn heute nachmittag auf den Berg getrieben haben? Ich dachte an das Auto und die halbe Wagenlänge, die es nur vom Abgrund trennte, und dachte an sein ausdrucksloses Gesicht. Welche Schritte hörte er wohl im Geiste, welche flüsternde Stimme –
was für Erinnerungen hatten sich seiner bemächtigt, und warum lag ausgerechnet dieses Gedicht in der Wagentasche?
Der mürrische Kellner brachte mir den Tee, und während ich den trockenen Toast aß, dachte ich an den Weg durch das Tal, den er mir am Nachmittag beschrieben, an den Duft der Azaleen und an die weiße Küste der Bucht.
Wenn er das alles so sehr liebte, warum suchte er dann den falschen Glanz von Monte Carlo?
Er hatte Mrs. Van Hopper erzählt, er sei ganz überstürzt hergefahren und habe noch gar keine weiteren Pläne. Und ich stellte mir vor, wie er jenen Pfad durch das Tal entlanglief, verfolgt von dem Gespenst seiner Erinnerungen.
Ich nahm das Buch wieder auf, und diesmal öffnete es sich an der Titelseite, und ich las die Widmung: «Max von Rebecca, den 17ten Mai», in einer merkwürdig schräg gestellten Schrift. Ein kleiner Tintenklecks hatte die leere gegenüberliegende Seite befleckt, als hätte die Schreiberin voll Ungeduld ihren Federhalter geschüttelt, um die Tinte reichlicher fließen zu lassen. Und dann war sie wohl ein wenig zu stark durch die Spitze geflossen, so daß der Name Rebecca sich tiefschwarz abhob, und das ausladende schiefe R drängte gleichsam die kleineren Buchstaben beiseite.
Ich schlug das Buch zu und legte es neben mich unter die Handschuhe. Dann beugte ich mich zu einem Stuhl in der Nähe, nahm ein altes Heft der Illustration auf und blätterte darin. Die Nummer enthielt ein paar schöne Photos von den Loire-Schlössern mit einem längeren Artikel darüber. Ich las ihn genau und verglich den Text mit den Bildern; doch als ich damit fertig war, merkte ich, daß ich kein Wort von dem Gelesenen verstanden hatte. Nicht Blois mit seinen schlanken Türmen und Zinnen starrte mir aus der Seite entgegen, sondern das Gesicht von Mrs. Van Hopper, wie sie am Tag vorher im Speisesaal, ihre mit Ravioli beladene Gabel hoch in der Luft, gesagt hatte:
«Eine grauenhafte Tragödie, die ganzen Zeitungen waren natürlich voll davon. Er soll niemals darüber reden und nie
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