Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
zusammengewohnt hatte, tauchte in einer dunklen Kammer ihrer Erinnerung auf. Sie hielt Sara auf dem Schoß und las ihr die Geschichte von Petter und seinen vier Geißlein vor. Die Wange an die weichen Haare der Kleinen geschmiegt. Saras Zeigefinger auf den Bildern.
Aber so ist es eben, dachte Rebecka. Ich werde mich immer daran erinnern. Sie dagegen hat es vergessen.
Plötzlich stand Sanna vor ihr. Das Spiel mit Tjapp hatte warme blassrosa Rosen auf ihre sonst so bläulichen Wangen gemalt.
»Du musst mit raufkommen und eine Kleinigkeit essen, ehe du fährst.«
»Mein Flug geht in einer halben Stunde, also …«
Rebecka beendete diesen Satz mit einem Kopfschütteln.
»Es gibt doch noch spätere Flüge«, sagte Sanna flehend, »ich hab dir ja noch nicht einmal dafür danken können, dass du gekommen bist. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn …«
»Ist schon gut«, sagte Rebecka mit einem Lächeln. »Ich muss jetzt wirklich los.«
Ihr Mund lächelte noch immer, und sie streckte zum Abschied die Hand aus.
Damit hatte sie Stellung bezogen, und das erkannte sie in der Sekunde, in der ihre Hand aus dem Handschuh glitt. Sanna schlug die Augen nieder und weigerte sich, diese Hand zu berühren.
Verdammt, dachte Rebecka.
»Du und ich«, sagte Sanna, ohne den Blick zu heben. »Wir waren wie Schwestern. Und jetzt habe ich meinen Bruder und meine Schwester verloren.«
Sie lachte kurz und traurig auf. Es hörte sich eher an wie ein Schluchzen.
»Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt.«
Rebecka wappnete sich gegen den plötzlichen Drang, Sanna in die Arme zu nehmen und sie zu trösten.
Komm mir ja nicht so, dachte sie wütend und ließ ihre Hand sinken. Manche Dinge kann man nicht heilen. Schon gar nicht in drei Minuten, in denen man im Kalten steht und sich verabschieden soll.
Ihre Füße wurden jetzt kalt. Die Stockholmer Schuhe waren viel zu dünn. Vorhin hatten ihre Füße noch wehgetan. Jetzt schienen sie zu verschwinden. Rebecka versuchte, sie ein wenig zu bewegen.
»Ich ruf dich an, wenn ich zu Hause bin«, sagte sie und stieg ins Auto.
»Tu das«, sagte Sanna gleichgültig und richtete ihren Blick auf Tjapp, die sich an die Hausecke presste und einen im Schnee hinterlassenen Gruß beantwortete.
Oder nächstes Jahr, dachte Rebecka und drehte den Zündschlüssel um.
Als sie den Blick zum Rückspiegel hob, sah sie dort Sara und Lova, die wieder auf der Treppe vor der Haustür standen.
Etwas in ihren Blicken brachte den Boden unter dem Auto ins Wanken.
Nein, nein, dachte Rebecka. Alles ist so, wie es sein soll. Alles ist in Ordnung. Und jetzt ganz schnell weg hier.
Aber ihre Füße wollten die Kupplung nicht verlassen, um auf das Gas zu drücken. Ihre Blicke hafteten an den beiden Mädchen vor der Tür. Sie sah deren aufgerissene Augen, sah, wie ihre Lippen sich bewegten und sie Sanna etwas zuriefen, das Rebecka nicht hören konnte. Sah, wie ihre Arme sich hoben und ihre Hände zur Wohnung hoch zeigten, um dann rasch wieder zu sinken, als ein Mensch aus der Tür trat.
Es war ein uniformierter Polizist, der mit raschen Schritten auf Sanna zuging. Rebecka konnte nicht hören, was er sagte.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Das Flugzeug würde sie jetzt auf keinen Fall mehr erreichen. Sie konnte jetzt nicht fahren. Mit einem tiefen Seufzer stieg sie aus dem Wagen. Ihr Körper bewegte sich langsam auf Sanna und den Polizisten zu. Die Mädchen standen noch immer vor der Tür und beugten sich über das verschneite Geländer. Saras Blick klebte an Sanna und dem Polizisten. Lova aß Schneeklumpen, die an ihrem Handschuh festgeklebt waren.
»Wieso denn Hausdurchsuchung?«
Sannas schrille Stimme ließ Tjapp innehalten. Sie schaute ihr Frauchen ängstlich an.
»Die dürfen doch nicht einfach ohne Erlaubnis meine Wohnung betreten? Oder dürfen die das?«
Diese Frage war an Rebecka gerichtet.
In diesem Moment kam der stellvertretende Oberstaatsanwalt Carl von Post aus dem Haus. Gefolgt von einer Frau und einem Mann in Zivil. Rebecka erkannte die Frau. Das war diese Kleine mit dem Pferdegesicht, wie hatte sie noch geheißen, Mella. Und der Kerl mit dem Walrossschnurrbart. Herrgott, sie hatte gedacht, diese Schnurrbärte seien mit den siebziger Jahren ausgestorben, der Mann könnte sich auch gleich ein totes Eichhörnchen unter die Nase kleben.
Der Staatsanwalt ging auf Sanna zu. Er hielt in der einen Hand eine Tasche, und daraus ragte eine etwas kleinere,
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