Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
finden, oder wie hast du das geschafft? Ich habe das Telefon die ganze Zeit ausgeschaltet, weil so viele Presseleute anrufen. Aber ich höre immer wieder den Anrufbeantworter ab und sehe meine Mails durch. Noch mal vielen Dank. Gute Nacht.«
Er hätte gern gewusst, ob sie jetzt auch anders aussah. Wie damals, als er ihr um fünf Uhr morgens am Empfang begegnet war. Er hatte die Nacht über in zähen Verhandlungen gesessen, und sie war schon zur Arbeit erschienen. Sie war zu Fuß gegangen. Ihre Haare waren zerzaust, und eine Strähne klebte an ihrer Wange. Ihr Gesicht hatte sich durch den frischen Wind gerötet, und ihre Augen waren blank, fast fröhlich. Er erinnerte sich noch, wie überrascht sie ausgesehen hatte. Und ein wenig verlegen. Er hatte stehen bleiben und mit ihr reden wollen, aber sie hatte ihn nur kurz gegrüßt und war in ihrem Zimmer verschwunden.
»Gute Nacht«, sagte er in seine geräuschlose Wohnung hinein.
Und es ward Abend, und es ward Morgen, das war der dritte Tag.
UM VIERTEL NACH DREI UHR morgens fängt es an zu schneien. Anfangs leicht, dann immer heftiger. Über den dicken Wolken tummelt sich das Nordlicht hemmungslos am Himmel. Windet sich wie eine Schlange. Spreizt sich für die Sternbilder.
Kristina Strandgård sitzt im silbernen Volvo ihres Mannes in der Garage unterhalb des Hauses. In der Garage ist es dunkel. Im Auto brennt nur die Lampe über dem Armaturenbrett. Kristina trägt einen glänzenden, gesteppten Morgenrock und Pantoffeln. Ihre linke Hand ruht auf ihrem Knie, ihre rechte umklammert die Autoschlüssel. – Sie hat Flickenteppiche aufgerollt und vor das geschlossene Garagentor gelegt. Die Haustür ist abgeschlossen.
Die Spalten zwischen Tür und Türrahmen sind mit Isolierband verklebt.
Ich sollte weinen, denkt Kristina. Ich sollte es machen wie Rahel: ›Ein Ruf ertönt in Rama, Weinen und laute Klagen: Rahel beweint ihre Kinder, sie lässt sich nicht trösten, denn es gibt sie nicht mehr.‹ Aber ich empfinde ja nichts. Ich scheine in mir nur weißes, knisterndes Papier zu haben. Ich bin die Kranke in unserer Familie. Ich habe das nicht für möglich gehalten, aber ich bin hier die Kranke.
Sie steckt den Zündschlüssel in die Zündung. Aber auch jetzt wollen die Tränen nicht kommen.
Sanna Strandgård steht in ihrer Zelle und drückt die Stirn gegen die kalten Gitterstäbe vor dem Fenster. Sie schaut hinaus auf den Fußweg vor den grünen Blechfassaden der Konduktörsgatan. Im Lichtschein steht Viktor im Schnee. Er ist nackt, bis auf die riesigen taubengrauen Flügel, die er um seinen Körper geschlagen hat, um sich ein wenig zu wärmen. Die Schneeflocken rieseln wie Sternschnuppen auf ihn herab. Funkeln im Laternenlicht. Sie schmelzen nicht, wenn sie auf seiner nackten Haut landen. Er hebt den Blick und schaut zu Sanna hoch.
»Ich kann dir nicht verzeihen«, flüstert sie und fährt mit dem Finger über das Fenster. »Aber Verzeihung ist ein Wunder, das im Herzen geschieht. Wenn du mir deshalb verzeihst, dann vielleicht …«
Sie kneift die Augen zusammen und sieht Rebecka. Rebeckas Hände und Arme sind bis zu den Ellbogen von Blut bedeckt. Sie streckt ihre Hände aus und hält beschützend eine über Saras Kopf und eine über Lovas.
Es tut mir Leid, Rebecka, denkt Sanna. Aber du musst es tun.
Als die Rathausuhr fünf Uhr schlägt, zieht Kristina Strandgård den Zündschlüssel heraus und steigt aus dem Auto. Sie entfernt die Teppiche vom Garagentor. Sie reißt das Isolierband von der Tür und knüllt es in der Tasche ihres Morgenrocks zusammen. Danach geht sie in die Küche und knetet einen Brotteig. Sie gibt Leinsamen in die Mischung, Olofs Verdauung arbeitet ein bisschen träge.
Mittwoch, 19. Februar
AM FRÜHEN MORGEN klingelte zu Hause bei Anna-Maria Mella das Telefon.
»Geh nicht ran«, sagte Robert mit rauer Stimme.
Aber aus der Gewohnheit vieler Jahre hatte Anna-Maria schon nach dem Hörer gegriffen.
Es war Sven-Erik Stålnacke.
»Ich bin’s«, sagte er kurz. »Du bist ja ganz außer Atem.«
»Ich komme gerade die Treppe hoch.«
»Hast du schon aus dem Fenster geschaut? Heute Nacht hat es wie bescheuert geschneit.«
»Mmm.«
»Die Ergebnisse aus Linköping sind da«, sagte Sven-Erik.
»Keine Fingerabdrücke auf dem Messer. Es ist gespült und abgetrocknet worden. Aber es handelt sich um die Mordwaffe. Ganz unten an der Klinge, gleich beim Schaft, sind Spuren von Viktor Strandgårds Blut gefunden worden. Und in Sanna Strandgårds
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