Rebecka Martinsson 01 - Sonnensturm
bisschen, bat sie, aber der barmherzige Schlaf war verschwunden.
Ihr Gesicht fühlte sich taub an. Die Hand kam unter der Decke hervor und fuhr über die Lippen. Wäre die Hand doch Saras weiches Haar. Könnte die Nase sich doch an Lovas Duft erinnern. Sie roch noch immer wie ein kleines Kind, obwohl sie langsam zu einem großen Mädchen wurde. Sannas Körper entspannte sich und ließ sich in den Erinnerungen versinken. Das Schlafzimmer zu Hause in der Wohnung. Alle vier im Bett. Lova, die Arme um ihren Hals gelegt. Sara, die sich an ihren Rücken schmiegte. Und Tjapp auf Saras Füßen. Die kleinen schwarzen Pfoten, die sich im Schlaf bewegten. Das alles war auf ihre Haut tätowiert, war in ihre Hände und Lippen eingeritzt. Was auch immer passierte, ihr Körper würde sich daran erinnern.
Rebecka, dachte sie. Ich werde sie nicht verlieren. Rebecka bringt alles in Ordnung. Ich werde nicht weinen. Das hilft ja doch nicht.
Eine Stunde darauf wurde die Zellentür vorsichtig einen Spaltbreit geöffnet. Licht strömte durch den Spalt, und jemand flüsterte:
»Bist du wach?«
Es war Anna-Maria Mella. Die Polizistin mit dem langen Zopf und dem gewaltigen Bauch.
Sanna sagte ja, und Anna-Maria verschwand wieder. Sie ließ die Zellentür jedoch weiterhin offenstehen.
Vom Gang her hörte Sanna die resignierte Stimme des Wärters:
»Aber verdammt nochmal, Mella!«
Und dann war Anna-Marias Antwort zu hören:
»Ach, reg dich nicht auf. Was glaubst du denn, was passieren kann? Dass sie aus der Zelle stürzt und die Panzertür aufsprengt?«
Sie ist bestimmt eine gute Mutter, dachte Sanna. Eine, die die Tür ein wenig offenlässt, damit das Kind sie in der Küche hören kann. Eine, die die Nachttischlampe brennen lässt, wenn das Kind im Dunkeln Angst hat.
Nach einer Weile kam Anna-Maria Mella mit zwei Gurkenbroten in der einen und einem Becher Tee in der anderen Hand zurück. Sie hatte einen Ordner unter dem Arm klemmen und stieß die Tür mit dem Fuß zu. Der Becher hatte angestoßene Ränder und hatte irgendwann einmal »der besten Oma der Welt« gehört.
»Oi«, sagte Sanna dankbar und setzte sich auf. »Ich dachte, im Knast müsste man von Wasser und Brot leben.«
»Das ist doch auch Wasser und Brot«, lachte Anna-Maria.
»Darf ich mich setzen?«
Sanna wies auf das Fußende der Pritsche, und Anna-Maria ließ sich nieder. Sie legte den Ordner auf den Boden.
»Er hat sich gesenkt«, sagte Sanna zwischen zwei Schlucken Tee und nickte zu Anna-Marias Bauch hinüber. »Jetzt ist es bald so weit.«
»Ja«, sagte Anna-Maria lächelnd.
Dann schwiegen sie eine Weile. Sanna kaute langsam ihre Brote. Die Gurkenstücke knirschten zwischen ihren Zähnen.
Anna-Maria schaute aus dem Fenster ins dichte Schneegestöber.
»Der Mord an Ihrem Bruder war, wie soll ich das sagen, religiös«, sagte Anna-Maria nachdenklich. »Irgendwie rituell.«
Sanna hörte auf zu kauen. Ein Stück Brot lag ihr wie ein Klumpen im Mund.
»Die ausgestochenen Augen, die abgehackten Hände, die vielen Stiche«, fügte Anna-Maria hinzu. »Die Stelle, wo sein Leichnam lag. Mitten vor dem Altar. Und keine Anzeichen von Auseinandersetzungen oder Handgreiflichkeiten.«
»Wie ein Opferlamm«, sagte Sanna leise.
»Genau«, stimmte Anna-Maria zu. »Und dann musste ich an die Stelle in der Bibel denken, wo es heißt, Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
»Das steht in einem der Bücher Mose«, sagte Sanna und streckte die Hand nach der Bibel aus, die neben der Pritsche auf dem Boden lag.
Sie suchte eine Weile, dann las sie laut vor:
»Wird Schaden zugefügt, dann sollst du Leben um Leben geben, Aug’ um Auge, Zahn um Zahn …«
Sie legte eine Pause ein und las zuerst selbst, ehe sie weiter vortrug: »Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandwunde um Brandwunde, Wunde um Wunde, Schramme um Schramme.«
»Wer hätte einen Grund gehabt, sich an ihm zu rächen?«, fragte Anna-Maria.
Sanna gab keine Antwort, sondern blätterte scheinbar planlos in der Bibel.
»Im Alten Testament werden den Leuten oft die Augen ausgestochen«, sagte sie. »Die Philister haben den Simson geblendet. Die Ammoniter boten den Belagerten in Jabesch unter der Bedingung Frieden an, dass sie sich alle die Augen ausstechen ließen.«
Sie verstummte, als die Tür sperrangelweit aufgerissen wurde und der Wärter erschien, gefolgt von Rebecka Martinsson.
Rebeckas Haare hingen als feuchte Strähnen über ihre Schultern. Ihre Wimperntusche hatte sich unter ihren Augen verteilt. Ihre Nase war ein
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