Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Komm jetzt aus dem Boot, und geh schlafen, dann reden wir morgen weiter, wenn du wieder nüchtern bist.«
Rebecka machte im Boot einen Schritt nach vorn. Das Boot schaukelte. Einen Moment lang rechnete Måns damit, dass sie auf den Steg klettern und ihm eine scheuern würde. Das wäre ja reizend.
»Wenn ich wieder nüchtern bin? Du…du bist wirklich unglaublich!«
Sie stellte einen Fuß auf den Steg und stieß sich ab. Måns spielte mit dem Gedanken, das Boot zu packen, aber auch das wäre ein zu reizender Anblick gewesen. Wie er das Boot festhielt, bis er ins Wasser fiel. Der kanzleieigene Onkel Melcher. Das Boot glitt davon.
»Dann fahr doch nach Kiruna!«, rief er, ohne sich darum zu kümmern, wer es hören konnte. »Von mir aus kannst du machen, was du willst.«
Das Boot verschwand in der Dunkelheit. Er hörte die Ruder in den Krampen klappern und die Ruderblätter platschend auf das Wasser schlagen.
Aber Rebeckas Stimme war noch immer nah, und jetzt war sie lauter geworden.
»Erzähl mir mal, was schlimmer sein könnte als das hier!«
Er kannte diese Stimme von seinem Streitkarussell mit Madelene her. Zuerst Madelenes unterdrückter Zorn. Und er, der nicht einmal ahnte, was er diesmal verbrochen hatte. Dann der Streit, jedes Mal wie der Sturm des Jahrhunderts. Und dann diese Stimme, die ein wenig schriller wurde und bald in Weinen umschlagen würde. Dann konnte der Zeitpunkt der Versöhnung gekommen sein. Wenn man bereit war, den Preis zu bezahlen: den Kopf zu senken wie ein Hund. Bei Madelene hatte er einem alten Drehbuch folgen können: Er gab zu, ein totaler Scheißkerl zu sein, Madelene wie ein schluchzendes kleines Kind in seinem Arm, den Kopf an seine Brust geschmiegt.
Aber Rebecka…auf der Suche nach den richtigen Worten bewegte sich dieser Gedanke unsicher und alkoholschwer in seinem Kopf herum, aber es war schon zu spät. Das Geräusch der Ruderschläge entfernte sich immer weiter.
Aber nie im Leben würde er hinter ihr herrufen. Das konnte sie gleich vergessen.
Plötzlich stand Ulla Carle neben ihm, eine der beiden Teilhaberinnen, und fragte, was denn los sei.
»Schieß mich in den Kopf«, sagte er und ging zum Hotel hoch. Er steuerte die Bar unter den Girlanden aus bunten Lampions an.
Dienstag, 5. September
POLIZEIINSPEKTOR SVEN-ERIK STÅLNACKE fuhr von Fjällnäs nach Kiruna. Der Kies stob gegen die Unterseite seines Autos, und hinter ihm wirbelte der Straßenstaub eine hohe Wolke auf. Als er in Richtung Nikkavägen abbog, ragte zu seiner Linken das eisblaue Kebnekajse-Massiv in den Himmel.
Seltsam, dass man das nie satt bekommt, dachte er.
Obwohl er schon über fünfzig war, war er noch immer vom Wechsel der Jahreszeiten fasziniert. Die kalte Bergluft des Herbstes, die aus dem Hochgebirge in die Täler strömt. Die Rückkehr der Sonne im Spätwinter. Das erste Tropfen von den Dächern. Und die Eisschmelze. Im Lauf der Jahre war diese Faszination fast noch gewachsen. Eigentlich hätte er eine Woche Urlaub gebraucht, einfach, um die Natur anzustarren.
Bei meinem Vater war das auch so, dachte er.
Sein Vater hatte in seinen letzten Lebensjahren, ach, sogar in seinen letzten fünfzehn Jahren, immer wieder dasselbe gesagt: »Das hier wird mein letzter Sommer. Das ist der letzte Herbst, den ich erleben darf.«
Offenbar hatte ihm gerade das die meiste Angst vor dem Tod beschert. Keinen Frühling erleben zu dürfen, keinen hellen Sommer, keinen glühenden Herbst. Dass die Jahreszeiten ohne ihn kommen und gehen würden.
Sven-Erik schaute auf die Uhr. Halb zwei. Noch eine halbe Stunde bis zu seinem Termin beim Staatsanwalt. Er könnte noch bei Annies Grill vorbeischauen und einen Burger essen.
Er wusste, was der Staatsanwalt auf dem Herzen hatte. Jetzt lag der Mord an der Pastorin Mildred Nilsson schon fast drei Monate zurück, und sie waren noch immer nicht weitergekommen. Nun hatte der Staatsanwalt die Sache satt. Und wer konnte ihm da einen Vorwurf machen?
Unbewusst steigerte er den Druck aufs Gaspedal. Er hätte Anna-Maria um Rat bitten sollen, das war ihm jetzt klar. Anna-Maria Mella war seine Gruppenchefin. Sie war gerade im Mutterschaftsurlaub, und Sven-Erik war ihre Vertretung. Nur hatte er Skrupel, sie zu Hause zu stören. Das war seltsam. Bei der gemeinsamen Arbeit war er ihr so nahe. Aber außerhalb der Arbeit wusste er nicht, was er zu ihr sagen sollte. Sie fehlte ihm, aber trotzdem hatte er sie nur einmal besucht, ganz kurz nach der Geburt des Kleinen. Sie hatte einige Male
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