Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
worden waren, füllten nun die Zeitungsspalten.
Den ganzen Sommer lang hatte die Polizei nach der Copy-Cat-Theorie gearbeitet: Jemand hatte sich vom Mord an Viktor Strandgård inspirieren lassen. Das Landeskriminalamt hatte anfangs sehr damit gezögert, ein Täterprofil zu erstellen. Man hatte es mit keinem Serienmörder zu tun, soviel man wusste. Und es stand durchaus nicht fest, dass es ein Nachahmer war. Aber die Parallelen zum Mord an Viktor Strandgård und das Medienaufgebot hatten doch dazu geführt, dass am Ende eine Psychiaterin von der Täterprofilgruppe des Landeskriminalamtes ihren Urlaub unterbrochen hatte und nach Kiruna gereist war.
Sie hatte sich an einem Vormittag Anfang Juli mit der lokalen Polizei getroffen. Ungefähr ein Dutzend Kollegen hatte im Besprechungszimmer gesessen. Sie wollten nicht riskieren, dass irgendwelche Außenstehenden das Gespräch belauschten, deshalb waren die Fenster geschlossen geblieben.
Die Gerichtspsychiaterin war Mitte vierzig. Sven-Erik hatte überrascht, dass sie über Verrückte, Massen- und Serienmörder mit so viel Ruhe und Verständnis gesprochen hatte, fast liebevoll. Wenn sie Beispiele aus der Wirklichkeit heranzog, sagte sie oft »der arme Mann« oder »wir hatten einen Jungen, der« oder »zu seinem Glück wurde er gefasst und verurteilt«. Und von einem anderen erzählte sie, dass er nach etlichen Jahren in der Gerichtspsychiatrie nun entlassen worden war, dass er Medikamente bekam, ein geordnetes Leben mit einer Halbtagsstelle bei einem Malerbetrieb führte und einen Hund hatte.
»Ich kann nicht genug betonen«, hatte sie gesagt, »dass die Polizei entscheiden muss, von welcher Theorie aus gearbeitet wird. Falls euer Mörder ein Nachahmer ist, dann kann ich ein wahrscheinliches Bild von ihm liefern, aber das steht ja nicht fest.«
Sie hatte eine Power-Point-Präsentation geliefert und um Fragen gebeten.
»Er ist ein Mann. Zwischen fünfzehn und fünfzig. Tut mir leid.«
Das Letzte fügte sie hinzu, als sie die Runde lächeln sah.
»Wir würden ja lieber hören, sechsundzwanzig Jahre und drei Monate, arbeitet als Zeitungsbote, wohnt bei seiner Mutter und fährt einen roten Volvo«, hatte jemand gescherzt.
Sie hatte hinzugefügt: »Und hat Schuhgröße 42 . Also, Nachahmer sind insofern etwas Besonderes, als sie oft gleich mit schweren Gewaltverbrechen anfangen. Er braucht also nicht einschlägig vorbestraft zu sein. Und es ist ja auch so, dass ihr Fingerabdrücke gesichert habt, die jedoch im Register nicht vorhanden sind.«
Nicken in der Runde.
»Er kann irgendwann einmal als Tatverdächtiger registriert oder wegen kleiner Verbrechen verurteilt worden sein, die für eine grenzenlose Person typisch sind. Vergehen wie Stalking, Telefonterror oder vielleicht Ladendiebstahl. Aber wenn es ein Nachahmer ist, dann hat er in seinem Kämmerchen gesessen und anderthalb Jahre lang über den Mord an Viktor Strandgård gelesen. Das ist eine stille Beschäftigung. Es war der Mord eines anderen. Bisher hat ihm das gereicht. Aber von nun an will er über sich selber lesen.«
»Aber die Morde lassen sich doch eigentlich nicht vergleichen«, hatte jemand eingewandt. »Viktor Strandgård wurde niedergeschlagen und durch Messerstiche getötet, dann wurden ihm die Augen ausgestochen und die Hände abgehackt.«
Sie hatte genickt.
»Das schon. Aber das kann sich damit erklären lassen, dass es sein erster Mord war. Mit Messern stechen, bohren und schneiden bedeutet mehr, wie soll ich sagen, bedeutet engeren Kontakt als ein länglicher Gegenstand, der hier offenbar verwendet worden ist. Es ist eine höhere Schwelle, die da überschritten werden muss. Beim nächsten Mal ist er vielleicht so weit, dass er ein Messer benutzen kann. Er kann vielleicht physische Nähe nicht ertragen.«
»Er hat sie doch in die Kirche getragen.«
»Aber da war er schon fertig mit ihr. Da war sie nichts mehr, nur noch ein Stück Fleisch. Na gut, er wohnt allein oder hat Zugang zu einem abgeschlossenen Raum, einem Hobbykeller vielleicht, den sonst niemand betritt, einer Werkstatt oder, ja, einem abschließbaren Schuppen. Dort bewahrt er seine Zeitungsausschnitte auf. Die liegen oft offen herum, vielleicht sind sie sogar an der Wand befestigt. Er ist isoliert, hat kaum soziale Kontakte. Es wäre denkbar, dass er sich andere Menschen ganz konkret vom Leib hält. Durch schlechte Hygiene zum Beispiel. Die Frage ist, ob ihr einen Verdächtigen habt und, wenn ja, ob er Freunde hat, aber vermutlich
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