Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
zusammen mit Mildreds Safeschlüssel dem Probst und können ihm sagen, dass ich das Haus verlassen habe.«
Sie sagt nichts. Nimmt den Schlüssel entgegen. Stellt keine Fragen nach seinen Möbeln oder sonstigen Habseligkeiten. Steht da. Das Telefon in der einen Hand, den Schlüssel in der anderen. Er würde gern etwas sagen. Um Verzeihung bitten, vielleicht. Sie in den Arm nehmen oder ihre Haare streicheln.
Aber Mildred ist aus dem Wagen gestiegen, steht daneben und ruft ihn.
Komm jetzt, ruft sie. Für sie kannst du nichts tun. Der helfen andere.
Also macht er kehrt und stapft zur Straße zurück.
Kaum hat er sich gesetzt, lässt ihn die Trauer, mit der Rebecka Martinsson ihn angesteckt hat, wieder los. Die Straße zur Stadt ist dunkel und abenteuerlich. Mildred sitzt neben ihm. Er hält vor dem Hotel Ferrum.
»Ich habe dir verziehen«, sagt er.
Sie schaut ihr Knie an. Schüttelt kurz den Kopf.
Ich habe nicht um Verzeihung gebeten, sagt sie.
ES IST ZWEI UHR nachts. Rebecka Martinsson schläft.
Die Neugier klettert durch das Fenster wie eine Schlingpflanze. Schlägt in ihrem Herzen Wurzeln. Schickt Wurzeln und Ableger wie Metastasen durch ihren Körper. Schlingt sich um ihre Rippen. Spinnt einen Kokon um ihren Brustkorb.
Als sie mitten in der Nacht aufwacht, ist daraus ein unbezwinglicher Drang geworden. Jetzt sind die Geräusche aus der Kneipe in der Herbstnacht verklungen. Ein Zweig streift das Blechdach der Hütte und schlägt dann wütend darauf ein. Es ist fast Vollmond. Das totenbleiche Licht fällt durch das Fenster. Lässt den Schlüsselbund auf dem Kiefernholztisch funkeln.
Sie steigt aus dem Bett und zieht sich an. Braucht kein Licht zu machen. Der Mondschein reicht aus. Sie schaut auf die Uhr. Sie denkt an Anna-Maria Mella. Sie mag diese Polizistin. Das ist eine Frau, die versucht, das Richtige zu tun.
Sie geht hinaus. Heftiger Wind weht. Birken und Ebereschen schlagen wütend um sich. Die Tannenstämme ächzen und knacken.
Sie setzt sich ins Auto und fährt los.
Sie fährt zum Friedhof. Das ist nicht weit. Er ist auch nicht groß. Sie braucht das Grab der Pastorin nicht lange zu suchen. Viele Blumen. Rosen. Heidekraut. Mildred Nilsson. Und eine leere Stelle für ihren Mann.
Sie war im selben Jahr geboren wie Mama, denkt Rebecka. Mama wäre im November fünfundfünfzig geworden.
Es ist still. Aber Rebecka kann die Stille nicht hören. Der Wind weht so wild, dass ihre Ohren dröhnen.
Sie bleibt eine Weile stehen und starrt den Stein an. Dann geht sie zurück zum Auto, das vor der Friedhofsmauer steht. Als sie sich hineinsetzt, verstummt der Lärm.
Was hast du denn erwartet, fragt sie sich. Dass die Pastorin durchsichtig auf dem Grabstein sitzt und dir auffordernd zuwinkt?
Dann wäre natürlich alles leichter. Aber jetzt ist es ihre eigene Entscheidung.
Der Probst will also den Schlüssel zu Mildred Nilssons Safe. Was mag darin liegen? Warum hat niemand die Polizei auf diesen Safe aufmerksam gemacht? Sie wollen ihren Schlüssel diskret ausgehändigt haben. Und zwar von Rebecka.
Das spielt keine Rolle, denkt sie. Ich kann genau das tun, was ich gerade will.
POLIZEIINSPEKTORIN ANNA-MARIA MELLA erwachte mitten in der Nacht. Das lag am Kaffee. Wenn sie spätabends noch Kaffee trank, wurde sie immer mitten in der Nacht wach und wälzte sich dann eine Weile hin und her, bis sie wieder einschlafen konnte. Ab und zu stand sie auf. Es war eigentlich eine ziemlich schöne Zeit. Die ganze Familie schlief, und sie konnte in der Küche bei einer Tasse Kamillentee Radio hören oder Wäsche zusammenlegen oder was auch immer und sich dabei in ihre Gedanken vertiefen.
Sie ging in den Keller hinunter und steckte das Bügeleisen ein. Ließ ihr Gespräch mit dem Mann der ermordeten Pastorin noch einmal in ihrem Kopf ablaufen.
Erik Nilsson: Jetzt setzen wir uns in die Küche, damit wir Ihr Auto im Blick haben.
Anna-Maria: Ach?
Erik Nilsson: Unsere Bekannten parken immer unten bei der Kneipe oder jedenfalls ein Stück von hier entfernt. Sonst besteht das Risiko, dass nachher die Reifen aufgeschlitzt sind oder der Lack zerkratzt ist oder so.
Anna-Maria: Ach.
Erik Nilsson: Na ja, so schlimm ist das auch wieder nicht. Aber vor einem Jahr hat es oft solche Zwischenfälle gegeben.
Anna-Maria: Haben Sie Anzeige erstattet?
Erik Nilsson: Die Polizei kann nichts unternehmen. Auch wenn man weiß, wer es war, gibt es doch nie Beweise. Niemand sieht jemals etwas. Die Leute haben sicher auch Angst. Als Nächstes
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