Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
dem wenigen Licht zu recken, bekamen aber nichts ab. Sie blieben nackt und schwarz. Verkrümmt und gequält, jetzt, so kurz vor dem Winterschlaf.
Sie fuhr am Gemeindehaus vorbei. Es war ein niedriges Gebäude aus weißem Klinker und dunklem Holz. Sie fuhr den Gruvväg hoch und hielt hinter der alten Reinigung.
Sie konnte sich die Sache immer noch anders überlegen. Nein, das konnte sie nicht.
Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, überlegte sie. Ich kann erwischt werden und Strafe zahlen müssen. Eine Stelle verlieren, die ich im Grunde schon verloren habe.
Bisher kam es ihr vor, als wäre das Allerschlimmste, zurückzufahren und sich wieder hinzulegen. Sich morgen in das Flugzeug nach Stockholm setzen und immer weiter zu hoffen, wieder so weit zu Verstand zu kommen, dass sie die Arbeit wieder aufnehmen könnte.
Sie musste an ihre Mutter denken. Die Erinnerung überkam sie in starken, greifbaren Bildern. Sie konnte ihre Mutter fast durch das Seitenfenster sehen. Elegante Frisur. Den erbsengrünen selbst genähten Mantel mit dem breiten Gürtel und dem Pelzkragen. Der die Nachbarinnen die Augen verdrehen ließ, wenn sie vorübertänzelte. Für wen hielt sie sich eigentlich? Und die hochhackigen Stiefel, die sie nicht in Kiruna gekauft hatte, sondern in Luleå.
Ihre Brust schien sich vor Liebe zusammenzuziehen. Sie wird sieben und streckt die Hand nach ihrer Mama aus. Die hat einen so schönen Mantel. Und ein schönes Gesicht. Als sie noch kleiner war, hat sie einmal gesagt: Du bist wie eine Barbie, Mama. Und Mama lachte und drückte sie an sich. Rebecka passte genau auf und sog all die schönen Düfte in sich ein. Mamas Haare rochen so fein und so besonders. Genauso wie der Puder in ihrem Gesicht. Und das Parfüm in ihrer Halsgrube. Rebecka sagte es auch später noch: Du siehst aus wie eine Barbie, nur, weil Mama sich so gefreut hatte. Aber sie freute sich nie wieder so. Es schien nur einmal zu funktionieren. Hör jetzt auf, sagte die Mutter schließlich.
Jetzt besann Rebecka sich. Es gab noch mehr. Wenn man ein wenig genauer hinschaute. Das, was die Nachbarinnen nicht sagten. Dass die Schuhe von billiger Qualität waren. Dass die Nägel gesprungen und abgenagt waren. Dass die Hand, die die Zigarette zum Mund führte, leicht zitterte, wie bei Leuten, die etwas nervös veranlagt sind.
Die wenigen Male, wenn Rebecka an sie denken musste, erinnerte sie sich immer an eine Frierende. Mit zwei Wollpullovern und dicken Socken zu Hause am Küchentisch aus Resopal.
Oder wie jetzt, die Schultern leicht hochgezogen, denn unter dem eleganten Mantel ist kein Platz für einen dicken Pullover. Die Hand, in der sie keine Zigarette hält, versteckt sich in der Manteltasche. Ihr Blick wandert ins Auto und fällt auf Rebecka. Schmale, forschende Augen. Die Mundwinkel gesenkt. Wer ist jetzt hier verrückt?
Ich bin nicht verrückt geworden, dachte Rebecka. Ich bin wie du.
Sie stieg aus dem Wagen und ging mit raschen Schritten auf das Gemeindehaus zu. Sie rannte fast weg vor der Erinnerung an die Frau im erbsengrünen Mantel.
Die Lampe über dem Hintereingang war passenderweise eingeschlagen worden. Rebecka testete die Schlüssel an ihrem Bund. Es konnte vielleicht eine Alarmanlage geben. Vermutlich die billige Variante: eine, die nur im Haus selbst schrillt, um Diebe zu verjagen. Oder eine teure, die sofort eine Wachgesellschaft benachrichtigt.
Keine Sorge, redete sie sich gut zu. Hier kommt nicht die nationale Sicherheitstruppe angestürzt, sondern ein verpennter Wachmann in einem Wagen, der vor dem Haupteingang halten wird. Zeit genug, um dann zu verschwinden.
Plötzlich hatte sie den passenden Schlüssel gefunden. Rebecka drehte ihn im Schloss um und glitt in die Dunkelheit des Hauses. Alles war still. Kein Alarm. Auch kein Piepsen, das andeutete, dass sie sechzig Sekunden hatte, um einen Code einzutippen. Das Gemeindehaus hatte ein Souterrain, die Hintertür lag im Obergeschoss, der Haupteingang ganz unten. Das Pfarrbüro befand sich im Obergeschoss, dass wusste sie. Sie machte sich nicht die Mühe zu schleichen.
Hier ist niemand, sagte sie zu sich.
Sie hatte das Gefühl, dass ihre Schritte widerhallten, als sie rasch über den Steinboden zum Pfarrbüro ging.
Das Zimmer mit dem Safe lag neben dem Pfarrbüro. Es war eng und fensterlos, sie musste das Deckenlicht einschalten.
Ihr Puls stieg, als sie mit dem Schlüssel im Schloss der anonymen grauen Schränke herumfummelte. Wenn jetzt irgendwer kam, dann
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