Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
dich jetzt an, dann hol ich dich ab.«
»Ach?«
»Du musst mit nach Poikkijärvi kommen. Ich muss mit Rebecka Martinsson sprechen, wenn sie noch dort ist.«
Anna-Maria bog mit ihrem Ford in Richtung Poikkijärvi ab. Sven-Erik saß neben ihr und drückte reflexmäßig die Füße gegen den Boden. Dass sie aber auch immer wie ein Verkehrsrowdy fahren musste!
»Rebecka Martinsson hat mir ja die Kopien gegeben«, sagte sie. »Ich versteh das alles nicht. Also, es geht jedenfalls um Finanzen, aber du weißt doch…«
»Können wir da nicht die Kollegen von der Wirtschaft fragen?«
»Die haben doch immer Unmengen zu tun. Man fragt und kriegt die Antwort nach einem Monat. Also können wir auch gleich Rebecka fragen. Sie hat den Kram ja schon gesehen. Und sie weiß, warum sie ihn uns gegeben hat.«
»Ist das wirklich eine gute Idee?«
»Hast du eine bessere?«
»Aber will sie denn in diese Sache hineingezogen werden?«
Anna-Maria schleuderte ungeduldig ihren Zopf nach hinten.
»Sie hat mir doch die Kopien und die Briefe gegeben! Und sie wird in gar nichts hineingezogen. Wie lange kann das dauern? Zehn Minuten von ihrem Urlaub.«
Anna-Maria bremste hastig, nahm links die Straße nach Jukkasjärvi, beschleunigte auf neunzig, bremste wieder und bog nach rechts in Richtung Poikkijärvi ab. Sven-Erik hielt sich an der Autotür fest, seine Gedanken wanderten zu der Tablette gegen Reisekrankheit, die er nicht genommen hatte, und dann zu dem Kater, der das Autofahren hasste.
»Manne ist verschwunden«, sagte er und schaute auf die in der Sonne funkelnden Tannen, die draußen vorüberfegten.
»Ach je«, sagte Anna-Maria. »Seit wann?«
»Seit vier Tagen. So lange ist er noch nie ausgeblieben.«
»Der kommt schon zurück«, sagte sie. »Es ist doch noch warm, natürlich will er da draußen sein.«
»Nein«, sagte Sven-Erik mit fester Stimme. »Er ist überfahren worden. Dieses Tier werde ich niemals wiedersehen.«
Er sehnte sich nach Widerspruch. Sie sollte protestieren und ihn beruhigen. Er würde in seiner Überzeugung verharren, dass der Kater für ihn auf ewig verloren sei. Um ein wenig von seiner Unruhe und seinem Kummer loszuwerden. Aber sie wechselte das Thema.
»Wir fahren nicht bis zur Hütte«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ihr diese Aufmerksamkeit lieb wäre.«
»Was macht sie hier eigentlich?«, fragte Sven-Erik.
»Weiß nicht.«
Anna-Maria hätte fast gesagt, sie glaube, dass es Rebecka vielleicht nicht besonders gut gehe, aber das verkniff sie sich. Denn dann würde Sven-Erik sie sicher zwingen, auf diesen Besuch zu verzichten. Er war in solchen Dingen immer weicher als sie. Vielleicht lag es daran, dass sie Kinder hatte, die zu Hause wohnten. Und deshalb wurde ihr Vorrat an Beschützerinstinkt und Fürsorge größtenteils dort verbraucht.
REBECKA MARTINSSON ÖFFNETE die Tür ihrer Hütte. Als sie Anna-Maria und Sven-Erik entdeckte, bildete sich zwischen ihren Augenbrauen eine tiefe Furche.
Anna-Maria stand näher vor ihr, etwas Eifriges lag in ihrem Blick, wie bei einem Setter, der Witterung aufnimmt. Sven-Erik hinter ihr, ihn hatte Rebecka nicht mehr gesehen, seit sie vor fast zwei Jahren im Krankenhaus gelegen hatte. Die kräftigen Haare, die um seine Ohren wuchsen, waren jetzt nicht mehr grau, sondern silbern. Der Schnurrbart hing noch immer wie ein totes Nagetier unter seiner Nase. Er sah verlegen aus, schien zu begreifen, dass sie hier nicht willkommen waren.
Auch wenn ihr mir das Leben gerettet habt, dachte Rebecka.
Gedanken jagten durch ihren Kopf. Wie Seidentücher durch die Hand eines Zauberkünstlers. Sven-Erik vor ihrem Krankenhausbett: »Wir waren in seiner Wohnung, und dann wussten wir, dass wir dich finden mussten. Den Mädchen geht es gut.«
Ich kann mich vor allem an vorher und nachher erinnern, dachte Rebecka. Vorher und nachher. Eigentlich müsste ich Sven-Erik fragen. Er kann mir vom Blut und den Toten erzählen.
Du willst von ihm hören, dass du Recht hattest, sagte eine Stimme in ihr. Dass es Notwehr war. Dass du keine Wahl hattest. Frag ihn doch einfach, bestimmt wird er dir sagen, was du hören willst.
Sie setzten sich in die Hütte. Sven-Erik und Anna-Maria auf Rebeckas Bett, Rebecka auf den einzigen Stuhl. An dem kleinen Heizkörper hingen ein T-Shirt, ein Paar Strümpfe und eine Unterhose über einem Aufkleber mit der Aufschrift »Nicht bedecken«.
Rebecka bedachte die feuchten Kleidungsstücke mit einem hastigen verlegenen Blick. Aber was hätte sie machen
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