Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Selbstverachtung, sondern beendete ihren Satz mit einem Schulterzucken.
Anna-Maria registrierte, dass Rebecka Martinsson oft mit den Schultern zuckte. Sie schüttelte vielleicht unwillkommene Gedanken ab. Oder sie war wie Marcus. Dessen ewiges Schulterzucken sollte seine Distanz zum Rest der Welt ausdrücken.
»Du hast dir noch nie überlegt, die Seiten zu wechseln?«, fragte Sven-Erik. »Es werden doch immer Staatsanwälte gesucht, hier oben bleibt ja niemand.«
Rebecka lächelte leicht verlegen.
»Natürlich«, sagte Sven-Erik, und ihm war anzusehen, dass er sich vorkam wie ein Idiot. »Du verdienst sicher dreimal so viel wie eine Staatsanwältin.«
»Das ist es nicht«, sagte Rebecka. »Im Moment arbeite ich überhaupt nicht, die Zukunft ist also…«
Wieder zuckte sie mit den Schultern.
»Aber du hast mir doch gesagt, dass du aus beruflichen Gründen hergekommen bist«, sagte Anna-Maria.
»Ja, ab und zu arbeite ich ein bisschen. Und als einer der Teilhaber hier zu tun hatte, wollte ich mitkommen.«
Sie ist krankgeschrieben, dachte Anna-Maria.
Sven-Erik blickte sekundenschnell herüber, auch er hatte das jetzt erfasst.
Rebecka erhob sich, um klarzustellen, dass das Gespräch zu Ende war. Sie verabschiedeten sich.
Als Sven-Erik und Anna-Maria einige Schritte gegangen waren, hörten sie Rebecka Martinssons Stimme hinter sich.
»Grober Unfug«, sagte sie.
Sie drehten sich um. Rebecka stand auf der kleinen Treppe der Hütte. Sie stemmte die Hand gegen einen der Pfosten, die das Vordach trugen, und beugte sich ein wenig vor.
Sie sieht so jung aus, dachte Anna-Maria. Vor zwei Jahren war sie eine typische Karrierefrau gewesen. Sie hatte superschlank und superteuer ausgesehen, und die langen dunklen Haare waren zu einer richtigen Frisur geschnitten und wurden nicht einfach quer gekappt, wie Anna-Marias. Jetzt hatte Rebecka längere Haare, quer gekappt. Sie trug Jeans und T-Shirt. Und benutzte kein Make-up. Ihre Hüftknochen standen am Jeansbund vor, und diese müde, aber verbissen gerade Haltung, die sie am Pfosten eingenommen hatte, erinnerte Anna-Maria an die Art von erwachsenen Kindern, die ihr manchmal über den Weg liefen. Vernachlässigte Kinder, die sich um ihre alkoholisierten oder psychisch kranken Eltern kümmerten, die für ihre kleinen Geschwister Essen machten, die die Fassade nach besten Kräften aufrechterhielten und Polizei und Sozialamt anlogen.
»Das mit den Kätzchen«, sagte Rebecka. »Das ist grober Unfug. Sein Verhalten sollte der Exfrau doch offenbar Angst einjagen. Und das Gesetz verlangt nicht, dass eine Drohung ausgesprochen wird. Sie hat sich doch gefürchtet, oder? Vielleicht Hausfriedensbruch. Kommt ein wenig darauf an, was er noch gemacht hat, aber es müsste als Begründung für ein Besuchsverbot eigentlich ausreichen.«
Als Sven-Erik Stålnacke und Anna-Maria Mella an der Hauptstraße entlang zu ihrem Auto zurückgingen, kam ihnen ein wüstengelber Mercedes entgegen. Darin saßen Lars-Gunnar und Teddy Vinsa. Lars-Gunnar schaute sie lange an. Sven-Erik hob die Hand zu einem Gruß, Lars-Gunnar war doch noch nicht viele Jahre in Rente.
»Ja, genau«, sagte Sven-Erik und schaute hinter dem Mercedes her, der unten bei Mickes Bar & Küche verschwand. »Der wohnt doch hier im Ort. Wie es wohl mit seinem Jungen geht?«
PROBST BERTIL STENSSON hielt in der Kirche von Kiruna den Mittagsgottesdienst ab. Einmal alle zwei Wochen konnte die Bevölkerung der Stadt in der Mittagspause das Abendmahl empfangen. An die zwanzig Personen hatten sich in dem kleinen Raum versammelt.
Pastor Stefan Wikström saß in der fünften Reihe zum Gang hin und bereute es, gekommen zu sein.
In seinem Kopf tauchte eine Erinnerung auf. Sein Vater, ebenfalls Probst, zu Hause auf der Küchenbank. Stefan neben ihm, vielleicht zehn Jahre alt. Der Junge plappert drauflos, er hält etwas in der Hand, etwas, das er zeigen will, er weiß nicht mehr, was es war. Der Vater mit der Zeitung vor dem Gesicht, wie dem Vorhang im Tempel. Und plötzlich bricht der Junge in Tränen aus. Dann hinter ihm die bittende Stimme der Mutter: Du kannst ihm doch einen Moment zuhören, er hat schon den ganzen Tag auf dich gewartet. Aus dem Augenwinkel sieht Stefan, dass sie ihre Schürze vorgebunden hat. Es muss also kurz vor dem Essen sein. Und jetzt lässt der Vater die Zeitung sinken, er ärgert sich über diese Unterbrechung seiner Lektüre, in der einzigen Ruhepause vor dem Essen, außerdem ist er beleidigt über den Vorwurf, der
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