Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
Mann?«, fragte Anna-Maria.
»Der weiß das auch nicht.«
»Nein, was ich meine, war: Wo steckt der?«
Kristin Wikströms Oberlippe zeigte plötzlich kleine Furchen.
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ihm ein paar Fragen stellen.«
Kristin Wikström schüttelte langsam und mit betrübter Miene den Kopf.
»Ich wünschte wirklich, er würde in Ruhe gelassen«, sagte sie. »Er hatte einen sehr harten Sommer. Keinen Urlaub. Die ganze Zeit Polizei. Und die Presse, die haben sogar nachts angerufen, wissen Sie, und wir wagen nicht, den Telefonstecker herauszuziehen, weil meine Mutter alt und krank ist, und was, wenn sie gerade dann anruft. Und die Angst, die wir alle haben, weil es vielleicht ein Verrückter ist, der…Man wagt ja nicht einmal, die Kinder allein aus dem Haus zu lassen. Und die ganze Zeit mache ich mir Sorgen um Stefan.«
Aber von Trauer um die tote Kollegin ist hier keine Rede, stellte Anna-Maria kalt fest.
»Ist er zu Hause?«, fragte sie schonungslos.
Kristin Wikström seufzte. Sah Anna-Maria an, als sei die ein Kind, das sie enttäuscht hatte. Zutiefst enttäuscht.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich bin keine, die die ganze Zeit die totale Kontrolle über ihren Mann haben muss.«
»Dann versuche ich mein Glück zuerst im Pfarrhaus in Jukkasjärvi, und wenn er da nicht ist, dann fahre ich in die Stadt«, sagte Anna-Maria Mella und unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen.
Kristin Wikström bleibt auf der Treppe vor dem Pfarrhaus von Poikkijärvi stehen. Sie schaut hinter dem roten Escort her. Diese Polizistin war ihr nicht sympathisch. Niemand ist ihr sympathisch. Halt, das stimmt natürlich nicht. Sie liebt Stefan. Und die Kinder. Sie liebt ihre Familie.
In ihrem Kopf hat sie einen Filmprojektor. Sie glaubt nicht, dass das so häufig vorkommt. Manchmal zeigt er nur Unfug. Aber jetzt will sie sich einen Film ansehen, den sie sehr gern mag. Die Herbstsonne wärmt ihr Gesicht. Es ist noch immer Spätsommer, man kann gar nicht glauben, dass das hier Kiruna ist, so warm, wie es ist. Und es ist ja auch nur gut so. Denn der Film stammt aus dem vergangenen Frühjahr.
Die Frühlingssonne scheint durch das Fenster und wärmt Kristins Gesicht. Die Farben sind sanft. Das Bild ist so weich getönt, dass sie einen Heiligenschein zu haben scheint. Sie sitzt auf einem Stuhl in der Küche. Auf dem Stuhl daneben sitzt Stefan. Er beugt sich vor und legt den Kopf in ihren Schoß. Ihre Hände wandern über seine Haare. Sie sagt: »Schhhhh.« Er weint. »Mildred«, sagt er. »Bald kann ich nicht mehr.« Er will doch nur Ruhe und Frieden. Arbeitsruhe. Ruhe zu Hause. Aber solange Mildred in der Gemeinde ihr Gift ausstreut…Sie streichelt seine weichen Haare. Es ist ein heiliger Moment. Stefan ist so stark. Er sucht nie bei ihr Trost. Sie genießt es, das alles für ihn sein zu können. Etwas bringt sie dazu aufzuschauen. In der Türöffnung steht ihr ältester Sohn. Benjamin. Gott, wie der aussieht, mit den langen Haaren und den engen schwarzen, zerfetzten Jeans. Er starrt seine Eltern an. Sagt keinen Mucks. Hat nur einen total wilden Blick. Sie runzelt die Stirn, um ihm klar zu machen, dass er verschwinden soll. Sie weiß, dass Stefan nicht will, dass die Kinder ihn so sehen.
Der Film ist zu Ende. Kristin legt die Hand auf das Treppengeländer. Das hier wird ihr und Stefans Haus sein. Wenn Mildreds Mann glaubt, einfach seine Möbel hinterlassen zu können, weil niemand es wagen wird, sie zu entfernen, dann hat er sich geirrt. Als sie zum Auto geht, lässt sie in ihrem Kopf noch einmal den Film ablaufen. Diesmal schneidet sie ihren Sohn Benjamin heraus.
ANNA-MARIA FUHR auf den Hofplatz des Pfarrhauses von Jukkasjärvi. Sie klingelte, aber niemand machte auf.
Als sie sich umdrehte, kam ein Junge auf das Haus zugegangen. Er war in Marcus’ Alter, fünfzehn vielleicht. Er hatte lange, glänzend schwarz gefärbte Haare. Unter seinen Augen hatte er schwarze Kajalstriche gezogen. Er trug eine abgenutzte schwarze Lederjacke und enge schwarze Jeans mit riesigen Löchern an den Knien.
»Hallo«, rief Anna-Maria. »Wohnst du hier? Ich suche Stefan Wikström, weißt du, ob…«
Weiter kam sie nicht. Der Junge starrte sie an. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Rannte an der Straße entlang. Einen Moment lang wollte Anna-Maria hinterherstürzen und ihn festhalten, dann überlegte sie sich die Sache anders. Wozu hätte das gut sein sollen?
Sie setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Stadt.
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