Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
verlassen? Er ist doch der beste…Ich sage doch, ihm muss etwas passiert sein.«
Sie schleuderte den Pass auf den Boden.
»Ich verstehe«, sagte Sven-Erik, »aber wir müssen trotzdem unseren Vorschriften folgen. Könnten Sie sich nicht setzen?«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Sie lief in der Küche herum, stieß gegen Möbel und tat sich weh. Auf der Küchenbank saßen zwei Jungen von fünf und zehn, sie bauten mit Legosteinen auf einer grünen Platte und schienen sich weder über die Verzweiflung der Mutter noch über Sven-Eriks und Anna-Marias Anwesenheit in der Küche weitere Gedanken zu machen.
Kinder, dachte Anna-Maria. Die können alles verdrängen.
Plötzlich kamen ihre und Roberts Probleme ihr verschwindend klein vor.
Was spielt es schon für eine Rolle, dass ich häufiger putze als er, dachte sie.
»Was soll denn nun werden«, rief Kristin. »Wie soll ich zurechtkommen?«
»Er war heute Nacht also nicht zu Hause«, sagte Sven-Erik. »Sind Sie sich da sicher?«
»Er hat nicht in seinem Bett gelegen«, weinte sie. »Ich beziehe die Betten freitags immer neu, und seine Seite ist unberührt.«
»Vielleicht ist er spät nach Hause gekommen und hat auf dem Sofa geschlafen?«, schlug Sven-Erik vor.
»Wir sind verheiratet. Warum sollte er nicht bei mir schlafen?«
Sven-Erik war zum Pfarrhaus von Jukkasjärvi gekommen, um Stefan Wikström nach der Reise in die USA zu fragen, die die Familie auf Kosten der Stiftung unternommen hatte. Kristin Wikström hatte ihn mit weit aufgerissenen Augen empfangen. »Ich wollte eben die Polizei anrufen«, hatte sie gesagt.
Als Erstes hatte er um den Kirchschlüssel gebeten und war hinübergerannt. Aber dort hatte kein toter Pastor von der Empore gehangen. Sven-Erik hatte sich für einen Moment auf eine Kirchenbank setzen müssen, so erleichtert war er gewesen. Dann hatte er auf der Wache angerufen und in den anderen Kirchen der Stadt nachsehen lassen. Und dann hatte er Anna-Maria verständigt.
»Wir brauchen die Kontonummer Ihres Gatten, haben Sie die bei der Hand?«
»Aber was reden Sie denn da? Haben Sie nicht gehört? Sie müssen sich auf die Suche nach ihm machen. Es ist doch etwas passiert! Er würde nie…Vielleicht liegt er…«
Sie verstummte und starrte ihre Söhne an. Dann stürzte sie auf den Hof hinaus. Sven-Erik folgte ihr. Anna-Maria schaute sich derweil um.
Eilig öffnete sie die Küchenschubladen. Keine Brieftasche. Keine der Jacken in der Diele enthielt eine Brieftasche. Sie ging ins Obergeschoss hoch. Wie Kristin Wikström gesagt hatte. Niemand hatte auf der einen Seite des Doppelbettes geschlafen.
Vom Schlafzimmer aus konnte sie den Anleger sehen, wo immer Mildred Nilssons Boot gelegen hatte. Die Stelle, wo sie ermordet worden war.
Und hell war es ja, dachte Anna-Maria. In der letzten Nacht vor Mittsommer.
Keine Armbanduhr auf seinem Nachttisch.
Uhr und Brieftasche hatte er also offenbar bei sich.
Sie ging wieder nach unten. Eines der Zimmer dort schien Stefans Arbeitszimmer zu sein. Sie zog an den Schreibtischschubladen, die waren abgeschlossen. Nach einer Weile Suchen fand sie den Schlüssel hinter einigen Büchern im Regal. Sie öffnete die Schubladen. Darin war nicht viel zu finden. Einige Briefe, die sie überflog. Nichts davon schien mit ihm und Mildred zu tun zu haben. Keiner stammte von einer eventuellen Geliebten. Sie schaute verstohlen aus dem Fenster. Sven-Erik und Kristin standen auf dem Hofplatz und redeten. Gut.
Normalerweise hätten sie einige Tage gewartet. Die meisten Leute verschwanden ja doch freiwillig.
Ein Serienmörder, dachte Anna-Maria. Wenn der Pastor tot aufgefunden wird, dann haben wir einen Serienmörder am Hals. Dann wissen wir das.
Draußen auf dem Hof hatte Kristin Wikström sich auf eine Gartenbank sinken lassen. Sven-Erik entlockte ihr alle möglichen Auskünfte. Wen sie anrufen könnten, damit die Kinder nicht allein wären. Die Namen von Stefan Wikströms Freunden und Bekannten, vielleicht wusste jemand von denen doch mehr als die Ehefrau. Ob sie ein Ferienhaus besäßen. Und ob die Familie nur ein Auto habe, das auf dem Hofplatz.
»Nein«, schniefte Kristin. »Sein Auto ist auch verschwunden.«
Tommy Rantakyrö rief an und berichtete, sie hätten alle Kirchen und Kapellen durchsucht. Kein toter Pastor.
Ein großer Kater kam selbstsicher über den Kiesweg zum Haus stolziert. Die Fremdlinge auf dem Hofplatz würdigte er kaum eines Blickes. Er änderte seinen Kurs nicht und versteckte sich auch
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