Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
»Wieso eine Juristin sich in die Küche stellt und unter falscher Flagge arbeitet. Was Sie heute Abend verdienen, würden Sie in der Stadt normalerweise für ein kleines Mittagessen bezahlen. Und da fragt man sich doch, warum Sie sich hier einschleichen…und schnüffeln. Wissen Sie, eigentlich ist mir das egal. Von mir aus sollen alle machen, was sie wollen, aber ich finde, Micke hat ein Recht auf die Wahrheit. Und außerdem…«
Er wich ihrem Blick aus und schaute zum Fluss hinüber. Stieß Luft aus. Etwas schien ihn zu belasten.
»Sie haben Teddy ausgenutzt. Er ist im Kopf nur ein kleiner Junge. Und Sie hatten die Frechheit, sich mit seiner Hilfe hier einzunisten.«
Jetzt trat Mimmi in die Türöffnung. Micke bedachte sie mit einem Blick, der sie veranlasste, die Tür hinter sich zu schließen und schweigend zu den anderen zu treten.
»Ihr Name kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte Lars-Gunnar jetzt. »Ich bin ein alter Polizist, wissen Sie, deshalb ist mir diese Geschichte in Jiekajärvi gut bekannt. Und dann ist mir eben ein Licht aufgegangen. Sie haben diese Leute ermordet. Jedenfalls Vesa Larsson. Kann sein, dass der Staatsanwalt nicht fand, dass das für eine Anklage ausreichte, aber ich kann Ihnen sagen, uns bei der Polizei interessiert das überhaupt nicht. In neunzig Prozent aller Fälle kommt es am Ende, auch wenn wir wissen, wer schuldig ist, nicht zur Anklage. Und Sie können doch zufrieden sein. Nach einem Mord ungeschoren davonzukommen, das ist schon eine Leistung. Und ich weiß nicht, was Sie hier wollen. Ob Sie nach dieser Sache mit Victor Strandgård Lust auf mehr bekommen haben und hier auf eigene Faust die Privatdetektivin spielen oder ob Sie vielleicht für eine Zeitung arbeiten. Das ist mir auch scheißegal. Aber jetzt ist jedenfalls Schluss mit diesem Narrenspiel.«
Rebecka sah die anderen an.
Ich müsste jetzt natürlich etwas sagen, dachte sie. Mich verteidigen.
Aber was sollte sie sagen? Dass sie hier auf andere Gedanken gekommen war, als sich Steine in die Jackentaschen zu nähen? Dass sie ihre Arbeit in der Kanzlei nicht mehr bewältigte? Dass sie an diesen Fluss hier gehörte? Und dass sie Sanna Strandgårds Töchtern das Leben gerettet hatte?
Sie band ihre Schürze ab und reichte sie Micke. Drehte sich wortlos um. Sie ging nicht zurück ins Lokal. Sie ging am Hühnerstall vorbei und dann über die Landstraße zu ihrer Hütte.
Nicht rennen, ermahnte sie sich. Sie spürte die Blicke der anderen im Rücken.
Niemand folgte ihr, um Erklärungen zu verlangen. Sie stopfte ihre Habseligkeiten in ihre Reisetasche, warf die Tasche auf die Rückbank ihres Mietwagens und fuhr los.
Sie weinte nicht.
Was spielt das hier für eine Rolle, überlegte sie. Das ist doch ganz und gar bedeutungslos. Alle sind bedeutungslos. Niemand bedeutet irgendetwas.
GELBBEIN
EISKALTER FEBRUAR. Die Tage werden lang, aber die Kälte ist wie Gottes geballte Faust. Noch immer unerschütterlich. Die Sonne ist nur ein Bild am Himmel, die Luft hart wie Glas. Unter einer dicken weißen Decke finden Mäuse und Wühlmäuse ihre Wege. Die Huftiere nagen sich durch die Eisrinden der Bäume. Sie magern ab und sehnen den Frühling herbei.
Aber vierzig Grad unter null und Schneestürme, die die gesamte Landschaft in einer langsamen weißen Welle der Vernichtung mit sich reißen, machen dem Wolfsrudel nichts aus. Im Gegenteil. Das hier ist für sie die beste Zeit. Das beste Wetter. Sie veranstalten im Schnee Picknicks mit allerlei Lustbarkeiten. Sie haben genug zu fressen. Sie haben ein gutes Revier und ein gutes Jagdgelände. Keine Hitze macht ihnen zu schaffen. Keine Blut saugenden Insekten.
Gelbbeins Tage sind gezählt. Die funkelnden Eckzähne der Rudelwölfin sagen, dass es so weit ist. Bald. Bald. Jetzt. Gelbbein hat alles getan. Ist auf den Kniegelenken gekrochen, um bleiben zu dürfen. An diesem Februarmorgen ist es so weit. Sie darf sich der Familie nicht nähern. Die Rudelwölfin greift sie an. Ihre Kiefer durchschneiden die Luft.
Die Stunden vergehen. Gelbbein verschwindet nicht sofort. Sie hält sich ein Stück abseits vom Rudel. Hofft auf ein Zeichen, dass sie zurückkehren darf. Aber die Rudelwölfin kennt kein Erbarmen. Springt immer wieder auf und jagt sie weg.
Ein Männchen, Gelbbeins Bruder, wendet sich ab. Ihr Kopf möchte die Schnauze in sein Fell bohren, auf seinem Bauch schlafen.
Die Jungwölfe senken die Schwänze und starren Gelbbein an. Ihre gelben Beine wollen sich zu einem Wettlauf
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