Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
angestürmt und machen sich über das sterbende Tier her. Dürfen den Triumph der Jagd teilen, an Beinen und Maul reißen. Die älteren Wölfe zerlegen mit ihren starken Zähnen den Elch. Der Rumpf dampft in der kalten Morgenluft.
In den Bäumen über ihnen versammeln sich schwarze Vögel.
Samstag, 9. September
ANNA-MARIA MELLA SCHAUTE aus dem Küchenfenster. Die Nachbarin putzte außen am Haus die Fensterbänke. Schon wieder! Das macht sie einmal pro Woche. Anna-Maria war noch nie bei ihr im Haus gewesen, konnte sich aber vorstellen, dass dort alles sauber, staubfrei und außerdem mit Ziergegenständen voll gestellt war.
Dieser Fleiß, den die Nachbarn Haus und Grundstück widmeten. Das ewige Knien vor dem Löwenzahn. Das sorgfältige Schneeschaufeln und der Bau perfekter Schneewälle. Das Fensterputzen. Der Vorhangwechsel. Ab und zu verspürte Anna-Maria eine unsinnige Irritation. Ab und zu auch Mitleid. Und jetzt eine Art Neid. Irgendwann einmal das ganze Haus geputzt zu haben, das wäre doch etwas.
»Jetzt wischt sie wieder die Fensterbänke ab«, sagte sie zu Robert.
Robert brummte etwas hinter dem Sportteil der Zeitung und seiner Kaffeetasse. Gustav saß vor dem Topfschrank und zog den gesamten Inhalt heraus.
Anna-Maria spürte, wie sie eine träge Welle von Unlust überkam. Sie mussten sich an den Wochenendputz machen. Aber dazu musste sie die Initiative ergreifen. Die Ärmel hochkrempeln und die anderen auf Trab bringen. Marcus übernachtete bei Hanna. Dieser Drückeberger. Sie müsste sich natürlich auch freuen. Dass er eine Freundin und Kumpels hatte. Der schlimmste Albtraum war doch, dass die Kinder ausgeschlossen und einsam wären. Aber dieses Zimmer!
»Heute kannst du Marcus sagen, dass er aufräumen muss«, sagte sie zu Robert. »Ich bring das ewige Gequengel nicht mehr über mich. – Hallo«, sagte sie nach einer Weile. »Bin ich noch da oder was?«
Robert schaute von der Zeitung auf.
»Du kannst ja wohl antworten. Damit man weiß, ob du es gehört hast oder nicht!«
»Ja, ich sag es ihm«, sagte Robert. »Warum bist du denn bloß so sauer?«
Anna-Maria riss sich zusammen.
»Entschuldige«, sagte sie. »Es ist nur…also, Marcus’ verdammtes Zimmer. Ich kriege richtig Angst. Ich finde es gefährlich, da reinzugehen. Ich war schon in Junkie-Höhlen, die im Vergleich dazu aus Schöner Wohnen zu stammen schienen.«
Robert nickte mit ernster Miene.
»Wo wir schon von schimmeligen Apfelresten reden…«, sagte er.
»Die machen mir Angst!«
»…die zugedröhnt in den Dämpfen von Bananenschalen tanzen. Wir sollten für unsere neuen Freunde ein paar Hamsterkäfige kaufen. Man soll schließlich das Eisen schmieden, solange…«
»Wenn du die Küche übernimmst, dann fange ich oben an«, schlug Anna-Maria vor.
Warum auch nicht. Im Obergeschoss herrschte das pure Chaos. Der Boden in ihrem und Roberts Zimmer war übersät von schmutziger Wäsche und halb vollen Plastiktüten und Taschen, die sie nach dem Urlaub noch nicht ausgepackt hatten. Die Fensterbänke waren übersät von toten Fliegen und Blumenblättern. Die Toilette war ein Drecksloch. Und die Zimmer der Kinder…
Anna-Maria seufzte. Sortieren und Einräumen waren nicht Roberts starke Seite. Er würde eine Ewigkeit dazu brauchen. Da überließ sie ihm besser den Herd, die Spülmaschine und den Staubsauger im Erdgeschoss.
Es war so schrecklich traurig, fand sie. Zweimal hatten sie beschlossen, am Donnerstagabend den wöchentlichen Hausputz vorzunehmen. Dann wäre alles schön und ordentlich, wenn der Freitagnachmittag kam und das Wochenende begann. Und dann könnten sie am Freitag etwas Gutes essen, und das Wochenende wäre länger, und der Samstag könnte einer angenehmeren Beschäftigung gewidmet werden, und alle könnten in dem sauberen Haus unendlich glücklich sein.
Aber es kam eben immer anders. Am Donnerstag waren sie einfach immer total erschöpft, an Aufräumen war da nicht mehr zu denken. Am Freitag konnte man kaum noch die Augen offen halten, lieh sich ein Video aus, bei dem sie immer einschlief, und dann verging der Samstag mit Putzen, und das halbe Wochenende war ruiniert. Ab und zu kamen sie erst am Sonntag dazu, und dann begann die Aktion oft mit einem von Anna-Marias Wutausbrüchen.
Und dann waren da all die Dinge, die nie erledigt wurden. Die Haufen in der Waschküche, sie kam da einfach nie nach, es war unmöglich. Alle versifften Kleiderschränke. Als sie zuletzt in den von Marcus geschaut hatte, um ihm beim
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