Rebecka Martinsson 02 - Weisse Nacht
spürt, dass sie sonst riskiert, aus der Gemeinschaft vertrieben zu werden. Eines schönen Tages darf sie dann vielleicht nicht zu den anderen zurückkehren. Ihre Halbschwester, die Rudelwölfin, hält sie sehr knapp. Gelbbein nähert sich dem Alphapaar nur mit geknickten Hinterbeinen und krummem Rücken, um ihre Unterwürfigkeit zu beweisen. Ihr Hintern schleift über dem Boden. Sie kriecht und leckt die Mundwinkel der beiden. Sie ist die beste Jägerin im Rudel, aber das hilft ihr jetzt nicht mehr. Die anderen kommen ohne sie zurecht, und irgendwie wissen sie alle, dass ihre Tage gezählt sind.
Rein physisch gesehen ist Gelbbein die Überlegene. Sie ist rasch und hat lange Beine. Sie ist das größte Weibchen im Rudel. Aber sie ist eben keine Anführerin. Sie macht gern auf eigene Faust Ausflüge, fort vom Rudel. Will keinen Streit und weicht ihm oft aus, indem sie umherschwänzelt und lieber zum Spiel einlädt. Ihre Halbschwester dagegen springt aus der Ruhestellung auf, reckt sich und scheint sich mit der steinharten Frage im Blick umzusehen: »Na? Will hier irgendwer heute irgendwelchen Scheiß anstellen?« Sie ist kompromisslos und furchtlos. Man passt sich an oder verzieht sich, das werden ihre Jungen auch bald lernen. Niemals würde sie zögern zu töten, wenn es Ärger gäbe. Solange sie die Führung hat, sollten rivalisierende Rudel sich gewaltig hüten, ihnen in die Quere zu kommen. Ihre Unruhe bringt das ganze Rudel dazu, auf der Jagd oder bei einer Wanderung, durch die das Territorium erweitert werden soll, im Gleichschritt dahinzutrotten.
Jetzt hat der Elch das Rudel gewittert. Es ist ein Jungbulle. Sie hören die Zweige, die bersten, als er durch den Wald bricht. Gelbbein setzt zum Galopp an. Der Neuschnee ist nicht tief, das Risiko, dass der Elch ihnen entkommen kann, ist sehr groß. Gelbbein löst sich von den anderen und läuft einen Halbkreis, um ihm den Weg abzuschneiden.
Nach zwei Kilometern hat das Rudel den Elch eingeholt. Gelbbein hat ihn angehalten, sie versucht ihn anzugreifen, bleibt aber außer Reichweite von Geweih und Klauen. Die anderen beziehen um das große Tier herum Posten. Der Bulle trampelt umher, bereit, sich gegen jeden Angriff zu verteidigen. Der erste Angriff wird von einem Männchen versucht. Er beißt sich in der Kniekehle des Elchs fest. Der Elch reißt sich los. Der Biss hinterlässt eine große Wunde, zerfetzte Muskeln und Sehnen. Aber der Wolf weicht nicht schnell genug zurück, und der Elch verpasst ihm einen Tritt, der ihn rückwärts schleudert. Als er wieder auf die Pfoten kommt, hinkt er ein wenig. Zwei Rippen sind gebrochen. Die anderen Wölfe ziehen sich einige Schritte zurück, und der Elch reißt sich los. Mit blutender Kniekehle verschwindet er im Wald.
Er hat noch zu viel Kraft. Soll er lieber blutend weiterlaufen und müde werden. Die Wölfe setzen ihrer Beute nach. Diesmal im gestreckten Trab. Sie haben es nicht eilig. Bald werden sie das große Tier wieder einholen. Der verletzte Wolf hinkt hinter ihnen her. In der nächsten Zeit wird er ganz und gar vom Jagdglück der anderen abhängig sein, wenn er überleben will. Wenn es zu wenig Beute gibt, werden für ihn nur Knochen abfallen. Und wenn sie zu weit auf Jagd ziehen müssen, wird er sie nicht begleiten können. Wenn hoher Schnee liegt, wird für ihn jeder Schritt zur Qual werden.
Nach fünf Kilometern greift die Wolfsmeute wieder an. Jetzt muss Gelbbein die grobe Arbeit machen. Sie führt beim Galopp an. Die Entfernung zwischen Rudel und Elch wird immer kleiner. Die anderen sind so dicht hinter ihr, dass sie ihre Köpfe an ihren Hinterbeinen spürt. Für sie alle gibt es nur noch den Elch. Sein Blut in ihren Nüstern. Sie haben ihn eingeholt. Sie verbeißt sich ins rechte Hinterbein des Tieres. Das ist der gefährlichste Moment, sie lässt nicht los, und gleich darauf hängt ein weiterer Wolf am anderen Bein. Ein dritter übernimmt blitzschnell Gelbbeins Position, als sie loslässt. Sie macht einen raschen Sprung nach vorn und schließt ihre Kiefer um die Kehle des Elchs. Der Elch bricht im Schnee in die Knie. Gelbbein zerrt an seinem Hals. Das große Tier versucht mit aller Kraft, sich zu erheben. Streckt den Kopf gen Himmel. Das Alphamännchen packt das Maul des Elchs und zieht dessen Kopf auf den Boden. Gelbbein packt wieder seinen Hals und zerfetzt ihm die Kehle.
Rasch verrinnt das Leben des Elchs. Der Schnee färbt sich rot. Die Welpen verstehen, was jetzt Sache ist. Freie Bahn. Sie kommen
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