Rebecka Martinsson 03 - Der schwarze Steg
hatten.
Für einen Moment sah sie Gustav vor sich, er war acht Monate alt und krabbelte überall herum. Wie entsetzlich! Ein Stecker, der in der Steckdose steckte, und eine abgerissene Leitung lag auf dem Boden. Die Kupferdrähte waren in der Kunststoffisolierung gut zu sehen. Und Gustav nutzte den Mund als wichtigstes Werkzeug, um seine Umwelt zu untersuchen. Anna-Maria verdrängte dieses Bild.
Dann ging es ihr auf. Elektrischer Schock. Sie hatte in ihrem Berufsleben schon etliche gesehen. Herrgott, der Junge, der vor fünf Jahren gestorben war. Sie war hingefahren, um sich davon zu überzeugen, dass es sich um einen Unglücksfall handelte. Er hatte barfuß auf dem Spülstein gestanden und eine Deckenlampe reparieren wollen. Die Haut unter seinen Füßen war eine einzige Brandwunde gewesen.
Inna Wattrang hatte eine bandförmige Brandwunde um den Knöchel.
Es wäre vorstellbar, dass jemand eine ganz normale Leitung aus einer Lampe reißt, dachte Anna-Maria. Zum Beispiel von einer Lampe, auf der ein Hirsch abgebildet ist. Und dass jemand dieses Stück Leitung auseinanderzieht und die Isolierschicht abschält und den einen Kupferdraht um den Knöchel eines Menschen wickelt.
Sie riss die Tür auf und rief ihre Kollegen. Die kamen mit langen Schritten durch den Neuschnee angerannt.
»Verdammt«, rief Anna-Maria. »Sie ist hier gestorben. Das weiß ich. Holt Tintin und Krister Eriksson!«
Polizeikommissar und Hundeführer Krister Eriksson traf eine knappe Stunde nach dem Anruf seiner Kollegen ein. Sie hatten Glück, oft war er mit Tintin an anderen Orten im Einsatz.
Krister Eriksson sah aus wie jemand von einem anderen Stern. Sein Gesicht wies schlimme Spuren einer Brandverletzung in seiner Jugend auf. Er hatte keine Nase, sondern nur zwei Löcher mitten im Gesicht. Seine Ohrmuscheln sahen aus wie zwei Mäuseohren. Er hatte keine Haare, keine Augenbrauen, keine Wimpern und seltsame Augen, deren Lider von Chirurgen geformt worden waren.
Anna-Maria betrachtete seine blanke schweinchenrosa Haut, und ihre Gedanken liefen zurück zu Inna Wattrang und ihrem versengten Knöchel.
Ich muss Pohjanen anrufen, dachte sie.
Krister Eriksson nahm Tintin an die Leine. Sie schmiegte sich an seine Füße und fiepte erwartungsvoll.
»Sie ist immer so eifrig«, sagte Krister und wickelte sich aus der Leine. »Ich muss sie zurückhalten, sonst geht die Suche zu schnell, und dann kann sie etwas übersehen.«
Krister Eriksson und Tintin gingen allein ins Haus. Sven-Erik Stålnacke und Fred Olsson stapften durch den Schnee und schauten durch die Fenster hinein.
Anna-Maria Mella setzte sich ins Auto und rief Oberarzt Lars Pohjanen an. Sie berichtete von der fehlenden Lampenleitung.
»Also?«, fragte sie dann.
»Natürlich kann die Verletzung am Knöchel von einer Leitung stammen, die Strom durch ihren Körper gesandt hat«, sagte Pohjanen.
»Ein Stück einer zerteilten Leitung, das um den Knöchel gewickelt worden ist?«
»Sicher. Und mit dem anderen Ende der Leitung wird der Strom geschickt.«
»Ist sie gefoltert worden?«
»Vielleicht. Es kann aber auch ein Spiel gewesen sein, das aus dem Ruder gelaufen ist. Kommt nicht oft vor, manchmal aber eben doch.«
»Ja?«
»Sie hat Leimspuren an Knöcheln und Handgelenken. Du solltest die Techniker die Möbel im Haus überprüfen lassen. Sie war mit Klebeband gefesselt, vielleicht Hände und Füße aneinander. Aber sie kann ja auch an ein Möbelstück gebunden worden sein, an Bettpfosten oder einen Stuhl oder so … Moment mal …«
Eine Sekunde verstrich. Dann hörte sie wieder die raue Stimme des Gerichtsmediziners.
»Ich habe Handschuhe angezogen und seh sie mir jetzt an«, sagte er. »Doch, am Hals gibt es einen kleinen, aber deutlichen Flecken.«
»Stammt der vom anderen Teil der Leitung?«, fragte Anna-Maria.
»Eine Lampenleitung, hast du gesagt?«
»Mmmm.«
»Dann müsste es Kupferreste in den Schmelzspuren in der Hornschicht geben. Ich werde eine histologische Gewebeprobe machen, dann weißt du es genau. Aber es ist wahrscheinlich, dass es sich so verhält. Sie hat jedenfalls eine Rhythmusstörung erlitten. Und ist in diesen schockartigen Zustand geraten. Das könnte die zerbissene Zunge und die Spuren ihrer Fingernägel in der Handfläche erklären.«
Sven-Erik Stålnacke klopfte an das Wagenfenster und zeigte auf das Haus.
»Du, ich muss aufhören«, sagte Anna-Maria zum Gerichtsmediziner. »Ich ruf wieder an.«
Sie stieg aus dem Auto aus.
»Tintin hat etwas
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