Rebellen der Ewigkeit
deinen Verfolgern nicht begegnen«, sagte Valerie. »Daran haben wir vorhin überhaupt nicht gedacht.«
»Ach was, ich glaube nicht, dass die noch hinter mir her sind. Die haben sicher Besseres zu tun.«
Sie nahmen die U-Bahn bis zum alten Lagerhausviertel am Fluss. Als sie wieder an die Oberfläche kamen, befanden sie sich in einer anderen Welt.
Während Karelias Haus in einem Viertel lag, das in den letzten Jahren nahezu völlig modernisiert worden war, herrschte hier der Verfall vor. In den vier oder fünf Stockwerke hohen Gebäuden klafften leere Fensterhöhlen, die Gehsteige waren mit Glassplittern, gebrauchten Heroinspritzen und Kondomen bedeckt, und in zahlreichen Nischen und Toreinfahrten lagen zerknickte große Kartons, die vielen Menschen in dieser Umgebung wahlweise als Schlafunterlage oder Bettdecke dienten.
Das Columbusquartier war die vergessene Zone der Stadt, dessen ruhmreiche Vergangenheit lange zurücklag. Vor hundert Jahren noch hatte hier das kommerzielle Herz der Stadt geschlagen, waren täglich Dutzende von Frachtern aus allen Ländern der Welt in die Hafenbecken eingelaufen. Die gewaltigen Lagerhäuser brodelten damals vor Leben. Rund um die Uhr wurde entladen, verstaut, beladen, abgefahren, gehandelt, getrunken, geflucht und gelacht.
Im Schatten der Speicher hatten sich zahlreiche Kneipen, einfache Restaurants, Schiffsbroker, Großhändler und Banken niedergelassen, die alle von dem nicht enden wollenden Strom an Waren und Menschen profitierten. Es war das Viertel, das nie schlief, in dem man zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas zu essen oder zu trinken erhielt und in das man aus dem Zentrum flüchtete, wenn man ein kleines Abenteuer abseits vom Alltag erleben wollte.
Heute war davon nichts mehr übrig geblieben. Das Columbusquartier war zur Endstation für die Ausgestoßenen und Vergessenen geworden. Nur am Rande des Viertels gab es noch ein Containerdock, das in Betrieb war. Wer dort arbeitete, lebte meist nicht in dieser Gegend.
Die Strahlen der Sonne hatten an Intensität nachgelassen und die alten Bauten warfen breite Schatten über die Straßen. Ein Hauch von Dieselöl vom nahe gelegenen Hafenbecken vermischte sich mit den Dämpfen der mobilen Garküchen, die an den Straßenrändern aufgebaut waren und bei denen man für wenig Geld eine Suppe oder ein Reisgericht bekommen konnte.
Valerie führte Willis zu einem schmalen Backsteinhaus, das zwischen zwei Lagerhäusern eingeklemmt war. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Holzbrettern verbarrikadiert und der Eingang wurde von einer dicken Stahltür versperrt. Valerie drückte auf die einzige Klingel, und wenige Sekunden später surrte der Türöffner und ließ sie ein.
Sie traten in einen hell erleuchteten Flur, dessen Wände in freundlichen Farben gestrichen waren, und kletterten die Treppe in den ersten Stock empor.
»Ich dachte, du musst in die Klinik«, sagte Willis, den es schon verwundert hatte, als sie im Columbusquartier ausgestiegen waren. Seit wann gab es hier ein Krankenhaus? Das hätte er als Fahrradkurier doch wissen müssen.
»Gehen wir doch auch.« Sie stieß eine weitere Metalltür auf dem Treppenabsatz auf und winkte Willis in einen hellen, großen Raum. »Voilà. Willkommen in der Columbus-Klinik.«
Sie standen in einem Wartezimmer. Auf den Stühlen saßen etwa ein Dutzend Menschen, denen man ansah, dass sie nicht zu den wohlhabenden Schichten gehörten. Alle Hautfarben des Erdballs waren vertreten. In einer Ecke saßen einige Kinder, die mit kleinen Autos und Flugzeugen spielten. Zur anderen Seite des Raums gingen zwei Türen ab, die beide offen standen. Durch die eine konnte man einen Zahnarztstuhl erkennen, in dem jemand saß. Ein junger Mann in schwarzem T-Shirt und schwarzer Cargohose beugte sich gerade mit Spiegel und Bohrer über den geöffneten Mund. Durch die andere Tür sah man das Ende einer Arztliege und ein Paar nackter Füße.
»Viele Leute in diesem Viertel haben keine Krankenversicherung und kein Geld, um einen Arzt zu bezahlen«, erklärte Valerie, während sie einige der Wartenden, die sie grüßten, mit einem freundlichen Kopfnicken bedachte. »Hier werden sie umsonst behandelt. Die meisten Ärzte, die hier arbeiten, sind Medizinstudenten im letzten Semester oder im praktischen Jahr. Sie kommen nach ihrer Arbeit für zwei oder drei Stunden her, um sich um die Menschen hier zu kümmern.«
»Und du? Was machst du hier?«
Valerie wies auf ein altes Klavier, das an der Wand vor einem der
Weitere Kostenlose Bücher