Rebellen: Roman (German Edition)
erste Lehrjahr war schon fast zu Ende, Feierabend war schon vorüber, Paul polierte ein Werkstück an der Schleifmaschine, Miss Titty hatte Urlaub, Eislinger erledigte Schreibarbeit in seinem Büro, als jemand die Tür aufriss und hereintrat: Erwin Heppeler, der Chef der Chefs, Eigentümer der Firma, gerade fünfundvierzig Jahre alt. Er ging zunächst zu Eislinger, der aufsprang, sprach kurz mit ihm, dann kamen die beiden Männer zu Paul. Eislinger gab ihm schon von Weitem ein Zeichen, und Paul stellte die Maschine ab.
»Du bist also der eifrige Stift aus dem ersten Lehrjahr. Wir haben schon viel von dir gehört. Gefällt es dir bei uns?«
»Ja, schon.«
»Du kommst aus dem Eisenbahn-Waisenhort?«
Paul nickte.
»Weiter so, mein Junge, dann wirst du es noch weit bringen in unserer Firma.« Er gab ihm die Hand, und Paul schlug ein.
Eislinger reichte dem Chef schnell ein Handtuch, damit er das Gemisch aus Maschinenöl und Kühlmittel abwischen konnte.
Seit diesem Tag behandelten ihn die Meister in der Firma anders, Paul konnte den Unterschied nicht genau benennen, aber er spürte, etwas hatte sich verändert.
»Sag mal«, sagte Miss Titty, als er abends alleine an der Werkbank stand und feilte. »Was macht ihr vom Waisenhaus eigentlich samstags?«
»Nichts Besonderes. Mal ins Kino gehen oder so.«
»Ich plane eine Spritztour zum Titisee. Willst du mitkommen?«
Paul sah überrascht auf: »Gern.«
Sie holte ihn um zwölf Uhr mit ihrem offenen Cabriolet an der Pforte ab. Sie fuhren zum Siegesdenkmal, verließen die Stadt hinter Littenweiler, und am Himmelreich fuhr sie auf den Parkplatz eines Restaurants. Sie lud ihn zum Mittagessen ein. Dann fuhren sie nach Titisee, liefen den See entlang, tranken Kaffee, und am Nachmittag setzte sie ihn wieder vor dem Waisenhaus ab.
Am folgenden Samstag fuhren sie nach Ihringen, tranken Grauburgunder bei einem Winzer, in der nächsten Woche zeigte sie ihm das Breisacher Münster, sie besuchten das Eisenbahnmuseum in Mühlhausen, und wieder eine Woche später radelten sie am Alten Rhein entlang. Wenn es regnete, nahm sie ihn mit in ihre Wohnung, er konnte dann im Fernsehen den Beat-Club ansehen, während sie kochte. Miss Titty kümmerte sich um ihn, und Paul gefiel es. Nachts träumte er von ihrem Busen.
Zu seinem neuen Leben gehörte auch die Berufsschule. Montags und mittwochs fuhr er mit der Straßenbahn biszum Bahnhof und lief dann die wenigen Meter hinüber zur Gewerbeschule II , einem großen, neu erbauten Gebäudekomplex, in dem die technische Berufs- und Oberschule untergebracht waren. Schade, dass sie am Nachmittag noch einmal in den Betrieb mussten, sonst wären es zwei bequeme Tage zum Ausruhen gewesen. Aber so musste er am Nachmittag um halb drei wieder bei Heppeler antreten. Montags sah er Strunz vom zweiten Lehrjahr in der Pause. Das zweite Lehrjahr ging montags und donnerstags zum Unterricht.
Strunz war größer als Paul, ging immer leicht vornübergebeugt, hatte lockige, fast krause Haare, ein schmales Gesicht, braune, aufmerksame Augen und eine leicht olivfarbene Hautfarbe. Paul hatte einmal gehört, wie ein älterer Arbeiter aus der Versuchsabteilung behauptete, bei dem Strunz hätte wohl auch ein französischer Besatzungssoldat mitgemischt.
Strunz stand auf der obersten Treppenstufe des Haupteingangs der Berufsschule. Um ihn herum standen sechs seiner Mitschüler und hörten ihm zu. Er hatte beide Hände vor sein Gesicht gehoben und formte mit Daumen und Zeigefingern ein »O«, ein ziemlich großes »O«, das größte, das man auf diese Weise darstellen kann. Paul stellte sich zu ihnen.
»So eine Möse hatte die«, sagte Strunz. »War richtig langweilig. Da hätte ich den Schwanz auch gleich in der Unterhose lassen können. War das gleiche Gefühl. Ich mag lieber die engen, wo man was spürt.«
Seine Kumpels nickten, einer sagte fachmännisch: »Also mir sind die engen auch lieber.«
Paul zuckte zurück. Blieb stehen.
Alle hatten offenbar schon eine Möse gesehen. Nur er nicht. Aber er sehnte sich doch so danach. Im Grunde dachte er an nichts anderes. Als Einziger konnte er da nicht mitreden.
Und wie konnte man so darüber reden wie Strunz? So alswürde es sich bei Frauen um Sportwagen handeln, bei denen eben einige getunt sind, andere nicht, einige mit Lederlenkrad, andere nicht.
Nichts wünschte er sich so sehr, als wirklich einmal eine Frau nackt zu sehen, sie anzufassen, sie … Was wusste er schon? Er wusste nichts. So viel stand fest. Und
Weitere Kostenlose Bücher