Rebellen: Roman (German Edition)
es sah nicht so aus, als würde sich das ändern. Mit hängenden Schultern ging er zurück ins Klassenzimmer.
Immerhin fand Paul bei Miss Titty Ruhe, fast eine neue Art von Zuhause, zumindest samstags. Wenn er nicht in der Werkstatt blieb, streifte er an den Wochentagen mit Alexander durch die Stadt. Sein Lehrlingslohn betrug im ersten Jahr 145 Mark, davon bekam er 25 Mark Taschengeld ausbezahlt, der Rest wurde auf ein Sperrkonto einbezahlt, das er frühestens am Tag seiner Gesellenprüfung plündern konnte.
Wie sollte man mit so wenig Geld den Keller in der Habsburgerstraße mieten?
»Wir gehen jetzt einfach mal hin und fragen nach dem Preis«, sagte Alexander.
29. Paul
Am nächsten Samstag sagte er Miss Titty ab, Alexander ließ sich für seine Familie eine Ausrede einfallen, und so standen sie nachmittags vor der Tür des Hauses Habsburgerstraße 87. Alexander hatte eine dunkelrote Samthose angezogen, Paul eine Bluejeans und schwarze Beatlesstiefel. Vor dem Klingelschild zögerten sie.
Auf dem unteren Klingelschild stand kein Name. Und auf dem mittleren stand »Dr. Groß«.
»Komm, wir hauen ab«, sagte Paul.
Alexander klingelte.
Nichts rührte sich. Alexander klingelte ein zweites Mal.
Nichts.
Gerade als sie sich umdrehten, öffnete sich die Tür. Ein alter Mann stand vor ihnen, kleiner als sie, zurückgebürstete, schüttere weiße Haare, länger, als sie sonst Männer in diesem Alter trugen, sie kringelten sich in seinem Nacken. Kleine Hände, rund und weich, Hände, denen Paul ansah, dass das Härteste, was sie je geleistet hatten, das Umblättern von Buchseiten gewesen war, eine große eckige Brille hinter grauen, skeptisch blickenden Augen, graue Hose, weit und altmodisch, und ein ausgeleierter Pullover.
»Was wollt ihr?«, fragte der Alte freundlich.
Paul fasste sich als Erster: »Wir wollen uns mal nach dem Partykeller erkundigen.«
»Auf welche Schule geht ihr?«
»Kepler«, sagte Alexander.
»Ich habe schon so viele Anfragen. Ich weiß gar nicht, wann der Keller wieder frei ist.«
Er betrachtete Paul. »Und auf welches Gymnasium gehst du?«
Ein Lehrer, der Kerl ist ein verdammter Lehrer. Er will mich reinlegen. Wenn ich jetzt auch Kepler sage, dann stellt er mir eine beschissene Lehrerfrage, die ich nicht beantworten kann.
»Ich bin Lehrling.«
Der Alte sah Paul freundlich an. »Ich kann euch den Keller mal zeigen«, sagte er.
Er drehte sich um und ging wenige Schritte durch den Flur, fingerte einen großen Schlüsselbund aus der Tasche seiner zerbeulten Hose, schloss eine Holztür auf und winkte den beiden zu. »Kommt mit.«
Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber was sie dann sahen, übertraf all ihre Erwartungen. Auf dem Boden lagen Matratzen, bespannt mit gebatikten Tüchern in psychedelischen Farben. An der Decke klebten Eierkartons, deren Prägungen wie Stalaktiten nach unten wuchsen und Paul an eine Tropfsteinhöhle erinnerten. Auf dem Boden und auf kleinen Tischen standen Korbflaschen, aus denen irgendwann mal Lambrusco und Chianti ausgeschenkt worden waren. Jede dieser Flaschen trug eine Kerze, und verschiedenfarbiger Wachs bedeckte die Flaschenbäuche. In der Ecke standen zwei riesige Boxen und ein Thorens-Plattenspieler.
»Wow«, sagte Alexander, »das ist perfekt.«
»Setzt euch doch.«
Alexander und Paul setzten sich vorsichtig auf den Rand einer der Matratzen.
»Nennt mich Doc«, sagte der Mann. »Hier im Haus heißeich bei allen Doc. Ich wohne im zweiten Stock. Im ersten Stock wohnen Studenten. Was lernst du für einen Beruf?« Doc wandte sich Paul zu.
»Ich werde Feinmechaniker. In der Heppeler-Maschinenfabrik.«
»Mechaniker! Die Elite der Arbeiterklasse.«
»Was würde das denn kosten, wenn wir den Keller an einem Samstag mieten würden?«, fragte Alexander.
»Hast du schon mal den Namen Karl Marx gehört?«
Alexander wollte etwas sagen, aber Docs Frage war an Paul gerichtet.
Ein Lehrer, ich wusste es, es ist ein Scheiß-Lehrer. Wenn ich jetzt etwas Falsches sage, dann kriegen wir den Keller nie. Paul kramte hektisch in seinem Gedächtnis. Karl Marx – den Namen hatte er schon einmal gehört, wahrscheinlich war es ein Dichter, dessen Werke er kennen sollte.
»Wir haben Schiller in der Schule gehabt. Die Glocke. Das mussten wir auswendig lernen. Und Goethe, so ein Gedicht, irgendwas mit einer Rose, glaub ich …«
»Karl Marx hat sich sehr für die Arbeiter eingesetzt.«
»Also die Miete …«, sagte
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