Rebellen: Roman (German Edition)
Alexander.
»Möchtest du etwas mehr über Karl Marx erfahren?«, fragte der Doc freundlich.
Paul suchte den Blick von Alexander. Wenn ich jetzt Nein sage, bekommen wir den Keller nicht. »Ja, wirklich gerne«, sagte er und verzog keine Miene.
Alexander rutschte auf der Matratze hin und her. Wieso behandelte ihn dieser Typ, der wie ein Pauker redete, wie Luft? Wieso interessiert der sich nur für Paul? Doc redete mit Paul, als habe der irgendeine Ahnung von Karl Marx. Er hatte zwar auch keine, aber dass Marx nicht gerade auf der Linie von Schiller und Goethe lag, war ihm immerhin klar.
Trotzdem irritierte ihn das auffällige Interesse an Paul. In ihrer Freundschaft gab es keinen Chef, das nicht gerade, aberAlexander war der Tonangebende. Er saß auf seinem Mofa und Paul auf dem Gepäckständer. Die Mädchen orientierten sich an ihm. Wenn sie hörten, dass Paul aus dem Waisenhaus kam, übersahen sie ihn. Diesmal, im Keller vom Doc, war es anders.
Hinterher saßen sie im Botanischen Garten, und Paul rauchte.
Alexander machte Paul Vorhaltungen. »Was willst du denn mit diesem Marx?«
»Das war ein Lehrer. Der will einem halt was beibringen. So sind die drauf. Bin nur deshalb drauf eingegangen, damit er uns nicht wieder rausschmeißt. Schließlich wollen wir doch den Keller mieten, oder?«
Paul hatte recht.
30. Paul
Heppeler, kein Zweifel, hatte die beste Lehrlingsausbildung in der Stadt. Die Firma legte nicht nur Wert auf die Vermittlung von technischen Fertigkeiten, sondern auch auf die Allgemeinbildung der Lehrlinge. Paul hatte der Anruf der »O« die Aufnahmeprüfung erspart. Strunz erzählte von dieser Prüfung. Auf dem Fragebogen habe die folgende Frage gestanden: »Ist die Straße von Gibraltar geteert oder gepflastert?«
»Und was hast du angekreuzt?«
Strunz lachte ihn aus, alle anderen lachten auch, und Paul wusste nicht, warum.
Zweimal in der Woche versammelten sich die Lehrlinge des ersten Lehrjahres im Konferenzsaal des Hauptgebäudes zum theoretischen Unterricht. Meister der Firma sprachen dann über »Grundlagen der Mechanik«, über »Die Feile« oder »Das Gewinde«. Heppeler legte jedoch auch Wert auf andere Themen. Deshalb wurde alle vierzehn Tage ein Journalist der Badischen Zeitung eingeladen, der über wichtige politische Ereignisse berichtete, manchmal wurde dieser Unterricht auch von leitenden Angestellten gehalten. »Schlafstunden« nannten es die Lehrlinge.
Reinhold Schmidt war Chef der Buchhaltung, ein Mann in den Vierzigern, von Siemens abgeworben, ganz von sich überzeugt, immer in weißem Hemd und Krawatte, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Agil und zupackend.
»Na«, sagte er und blickte in die Runde, »wer von euch liest denn eigentlich eine Zeitung?«
Blöde Frage. Peinliches Schweigen. Jeder stierte auf den Tisch.
Schmidt ließ nicht locker: »In ein paar Jahren dürft ihr wählen. Wie wollt ihr überhaupt entscheiden, was ihr wählen wollt? Also, wer hat jemals von euch eine Zeitung gelesen?«
Noch drückenderes Schweigen.
Paul ärgerte sich. Schmidt hielt sie für Idioten. Wie er dastand, den Kopf erhoben, mit diesem überheblichen Lächeln, und die schweigende Meute musterte. Er war kein Idiot, und die anderen Lehrlinge waren es auch nicht.
Weiß der Teufel, was ihn ritt: Er hob die Hand.
Strunz sah ihn erstaunt an, jemand prustete hinter vorgehaltener Hand.
Schmidt fixierte ihn. »Ach, Paul. Ausgerechnet der Paul. Dann verrate uns doch allen mal, wie die Zeitung heißt, die du liest?«
Panisch durchforstete Paul sein Gehirn nach irgendeinem Zeitungstitel. Er hatte noch nie eine gelesen, aber Schmidts Abfälligkeit passte ihm nicht. Außerdem wollte er sich wichtigmachen; die Straße von Gibraltar ausbügeln.
»Paul, wir warten alle.«
Die anderen Lehrlinge sahen ihn an, einige erwartungsvoll, andere dachten, da habe er sich in etwas hineingeritten, und waren neugierig, wie er da wieder rauskam. Aber Pauls Kopf war leer. Er verfluchte seine Voreiligkeit. Hätte er nur die Schnauze gehalten!
»Wir warten immer noch! Alle sind gespannt zu erfahren, welche Zeitung Paul liest.« Schmidt beugte sich nach vorne, stützte sich mit den Fäusten auf die vordere Bank, seines Sieges sicher.
Da fiel ihm ein Titel ein. Er sah Schmidt fest in die Augen und sagte: »Den Spiegel.«
Aufatmen bei den anderen Lehrlingen, Freude bei Paul, dass ihm ein Zeitungstitel eingefallen war, und Hoffnung, dass nun ein Lob fällig war oder dass Schmidt zumindest die Sache auf sich
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