Rebellen: Roman (German Edition)
Stelle, da befasst sich Marx genau mit deiner Frage. Ich les mal vor: Es könnte scheinen, daß, wenn der Wert einer Ware durch das während ihrer Produktion verausgabte Arbeitsquantum bestimmt ist, je fauler oder ungeschickter ein Mann, desto wertvoller seine Ware, weil er desto mehr Zeit zu ihrer Verfertigung braucht. Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht. Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaft lichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen. Nach der Einführung des Dampfwebstuhls in England z. B. genügte vielleicht halb so viel Arbeit als vorher, um ein gegebenes Quantum Garn in Gewebe zu verwandeln. Der englische Handweber brauchte zu dieser Verwandlung in der Tat nach wie vor dieselbe Arbeitszeit, aber das Produkt seiner individuellen Arbeitsstunde stellte jetzt nur noch eine halbe gesellschaftliche Arbeitsstunde dar und fiel daher auf die Hälfte seines frühern Werts.«
»Es ist also so«, sagte Alexander, »in den Wert eines Produkts geht nicht die Arbeit ein, die die Arbeiter tatsächlich benötigen, sondern so viel, wie die Arbeiter …«
»Einer Branche …«, schlug Otmar vor.
»Genau«, sagte Mischa.
»Also«, fuhr Alexander fort, »in den Wert einer Ware geht die Arbeit ein, die in einer Branche durchschnittlich gebraucht wird.«
»Verstehe«, sagte Ryder.
»Aber«, fuhr Alexander fort und musste wieder an die Firma Ditzinger denken, »was ist mit Firmen, die schneller produzieren, als die Branche es tut?«
»Dieser Kapitalist streicht dann einen Extraprofit ein«, sagte Mischa, »darüber reden wir noch ausführlicher im dritten Band des Kapitals.«
Langsam wurden Paul auch die komplexeren Sätze klarer. Je weiter sie sich in dem Buch vorarbeiteten, desto besser und schneller verstand er. Ihm kam es vor, als würde sich etwas sehr Altes aus seinem Inneren lösen, etwas aus Metall, etwas von Rost Festgefressenes, das ihn bisher umklammert und gefesselt hatte. Jetzt gab es ihn frei.
Ich bin nicht dumm, dachte er.
Dieser Gedanke erschien ihm so kühn, so verwegen, dass er ihn gleich wieder aus seinem Kopf vertrieb. Aber es stimmte. Er konnte es in seinem Kopf förmlich spüren. Wieeine Bürste, die sich durch ein nie gereinigtes Rohr zwängte, den Dreck und die Verstopfungen an den Seitenwänden wegriss, wurde durch Mischa und Karl Marx Blut in neue, bisher brachliegende Regionen seines Hirns transportiert. Die Lektüre blies seinen Kopf frei. Die Vorhänge lichteten sich. Das Fenster stand weit offen.
Karl Marx machte hungrig. Nach zwei Stunden Schulung schob Paul größeren Kohldampf als nach zwei Stunden Kabeltrommeln abladen unter Würteles Aufsicht. Hin und wieder lud Mischa sie zu sich nach Hause ein. Er wohnte in einer Wohngemeinschaft in einer alten Villa mit Garten oben auf dem Lorettoberg. Er brutzelte dann Bratkartoffeln und Zwiebeln, schlug ein paar Eier dazu und einige klein geschnittene Tomaten, pfefferte und salzte das Ganze. Und verteilte die Arbeit. Jeder half. Paul schnitt die Zwiebeln; Mischa lieh ihm dazu seine Tauchermaske, damit er wegen der Zwiebeldämpfe nicht weinen musste. Otmar wusch und schnitt die Tomaten, Alexander die Kartoffeln. Hubert deckte den Tisch, nur Ryder war der Ansicht, Hausarbeit sei etwas für Frauen.
Und es gab Rotwein.
Sie saßen dann um den großen Tisch im ersten Stock. Es schmeckte herrlich.
Mischa erzählte aus seinem Leben. Eigentlich sei er Schiffsbauer. Arbeiter wie sie. Sein Vater sei im Krieg geblieben. Seine Mutter und er seien vor den Russen geflüchtet und dann irgendwo zwischen Malente und Kiel gelandet. In einem Dorf, kaum tausend Seelen stark. Er sei immer Außenseiter im Dorf
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