Rebellen: Roman (German Edition)
Herrn Heppeler an ihm vorbeifuhr. Nach einigen Metern hielt der Wagen des Chefs, die Scheibe surrte wie von Geisterhand gezogen herunter – damals eine technische Sensation –, und der Chef sagte: »Guten Abend, Paul, steig ein. Ich fahr dich ins Waisenhaus.«
»Und was beschäftigt unseren besten Lehrling zurzeit«, fragte Heppeler, als der Wagen durch das Werkstor auf die Straße glitt.
Paul überlegte einen Moment, dann erzählte er ihm, dass er ein tolles Buch gelesen habe. Über Kuba. Von einem gewissen Enzensberger. Da würden riesige Fortschritte gemacht. Schulbildung, medizinische Versorgung, vielleicht noch nicht so gut wie in Deutschland, aber das müsse man im Vergleich zu den anderen Staaten Südamerikas sehen. Wenn das alles so weitergehe, würde das Leben dort wahnsinnig gut werden. Die Amerikaner hätten das verhindern wollen und Soldaten geschickt. Aber die Intervention – dieses Fremdwort ging ihm leicht über die Lippen – sei zurückgeschlagen worden.
Herr Heppeler hörte ihm zu und sagte nichts, bis sie vor dem Turm des Waisenhauses standen. Paul bedankte sich freundlich und stieg aus.
Am nächsten Tag wurde er in die Montage versetzt.
Der Rest des dritten Lehrjahres wurde hart.
44. Toni
Die Zeit mit Paul, ich meine, diese Zeit mit Paul, gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Ich besuchte ihn oft. Ich stieg aus dem breiten Bett, das alles besser machte, als es zuvor gewesen war, ging nach Hause, spät am Abend, ohne jede Sorge, manchmal tanzte ich noch allein auf der Straße, manchmal blieb ich noch bis zum Morgen, und wir hörten Leonard Cohen die ganze Nacht.
Wehmut ist ein süßer Schmerz. Wenn etwas unwiderruflich gegangen ist, etwas sehr Schönes und Wichtiges, dann stellt Wehmut sich ein. Die Liebe ist für immer verloren, aber es bleibt die Erinnerung.
Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen der ewigen Liebe!
Ach, nur dem halbgetrockneten Auge
Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!
Trocknet nicht, trocknet nicht,
Tränen unglücklicher Liebe!
Schön, nicht wahr? Ein bisschen zu glatt, zu geschliffen, wie so vieles von Goethe, aber trotzdem: Hin und wieder lese ich es mir laut vor.
Und dann weine ich. Aber nur, wenn mich niemand sieht.
Ich besaß es doch einmal,
was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!
Wir waren ein so ungleiches Paar. Ein so ungleiches, glückliches Paar. Er musste kurz nach sechs aufstehen, um in dieser scheußlichen Fabrik zu schuften. Seine Straßenbahn fuhr fünf Minuten vor halb sieben an der Schwarzwaldstraße ab. Er wusch sich im Halbschlaf, er trank einen Kaffee im Halbschlaf, er zog sich an im Halbschlaf, und ich, nun ja, wenn ich in der Nacht bei ihm geblieben war, lag ich noch im Bett und sah ihm still zu, wusste, dass ich ihn stören würde, morgens in dieser halb bewussten Routine.
Später stand ich dann auch auf, duschte, steckte meine Zahnbürste wieder in die Handtasche und zog die Tür seiner Wohnung im Tiefparterre hinter mir zu. Ich ging dann meist ins Café Ruef, dort saßen einige meiner Kommilitonen, die bereits Flugblätter an den Werkstoren für die Frühschichten verteilt hatten. Ich hörte mir ihre Erlebnisse an, jedes freundliche Wort eines Arbeiters wurde aufmerksam registriert und im Café Ruef gewogen, ob sich daraus eine Zustimmung zur proletarischen Revolution ableiten ließe. Dann fuhr ich nach Hause, ins Seminar, lebte etwas anderes und war doch immer noch ganz erfüllt – sagt man nicht so? – von diesem Mann.
45. Toni
1969 bestand ich das Abitur am Hansa-Gymnasium in Hamburg-Bergedorf mit einer glatten Eins. Ich war gerade achtzehn Jahre geworden, ein angepasstes Mädchen, das fleißig lernte und dem Lehrer die Tür aufhielt. Ich führte das Klassenbuch, und ich blieb sitzen, wenn der AUSS Schülerdemos organisierte. So war ich. Seltsam, wenn ich heute an das Mädchen denke, das ich damals gewesen bin, so empfinde ich merkwürdigerweise Fremdheit und Vertrautheit zugleich mit diesem hochgeschossenen und scheuen, nachdenklichen und wahrscheinlich ziemlich komplizierten Wesen. Es ist, als würde ich an jemand anderen denken, an eine Freundin, die ich früher gut gekannt, dann aber aus den Augen verloren habe. Heute bin ich ganz anders als damals und doch in mancher Hinsicht immer noch dieselbe.
Noch immer war ich neugierig, wollte wissen und verstehen, und noch immer wollte ich aus meinem Leben etwas Sinnvolles, etwas Schönes und Nützliches machen. Diesen Wunsch teilte ich
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