Rebellen: Roman (German Edition)
mit den Freundinnen, die ich am Hansa-Gymnasium gefunden hatte. Wir waren eine eingeschworene Clique, vier Mädchen, die sich von dem Rest der Klasse absonderten und sich in eine Aura des Geheimnisvollen hüllten.
Da war zunächst einmal Reintraud, eigentlich mit diesem Vornamen, der damals nicht gerade modisch war, genug bestraft, aber sie trug ihn, als habe sie ihn für sich selbst nach langem Nachdenken ausgesucht. Ein mageres Mädchen mit spindeldürren Beinen, großen Augen in einem länglichen Gesicht, Augen, die nie lachten; sehr klug, immer todernst. Reintraud sah aus, als hüte sie ein dunkles Geheimnis, das uns andere alle überfordern würde.
Monika war in der 9. Klasse zu uns gekommen, irgendein Lehrer verquasselte sich, und so erfuhren wir, dass sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ich habe sie nie anders gesehen als in langen schwarzen Kleidern und Röcken. Die Jungs nannten sie Juliette, nach Juliette Gréco. Das passte gut zu ihr, und es gefiel ihr. Sie zupfte ihre Augenbrauen, damals unfassbar extravagant, sie schnitt sich selbst die Haare, trug einen Pony, der die Stirn frei ließ, und ihre langen schwarzen Haare ließ sie wachsen, bis sie ihren Busen umspielten. Die Jungs himmelten sie an, wagten es aber nicht, ihr nahe zu kommen. Allen vermittelte sie das Gefühl, unzureichend zu sein.
Angela dagegen war blond, ziemlich kräftig, schwitzte ständig und war immer nervös. Sie schrieb miserable Noten, in Mathe und Physik zogen wir sie mit, paukten jeden zweiten Tag mit ihr und brachten sie letztlich durchs Abitur. Ihr Vater war Lehrer, die Familie wohnte in einem schönen, weißen zweistöckigen Haus, komplett mit wildem Wein bewachsen. Von außen eine Idylle! Drinnen aber regierte das Grauen. Aus unserer Clique durfte ich sie als Einzige in diesem Haus besuchen. Ihr Zimmer lag im ersten Stock, direkt neben dem Schlafzimmer ihrer Mutter. Dieser Raum wurde beherrscht von einem riesigen Bett, und darin lag eine abgemagerte, schwer atmende Frau, dünn wie ein Vögelchen. Sie leide an einer Herzkrankheit, sagte Angela und fügte dann schnell hinzu: »Ist aber alles eingebildet.« In Wirklichkeit, das weiß ich heute, gierte sie nach Morphium und Tabletten. Angelas Vater, der Lehrer, kannte genügend Apothekerund Ärzte, die Gefälligkeitsrezepte ausschrieben, aber selbst diese reichten nicht immer, und Angela erzählte mir mit grimmigem Ernst, wie sie nachts oft durch Bergedorf radelte und in wechselnden Apotheken Tabletten für ihre süchtige Mutter beschaffte.
Solchen Mädchen wollte ich helfen. Dies war die Aufgabe, die ich gesucht hatte. Nach dem Abitur schrieb ich mich für Psychologie an der Universität Hamburg ein.
Bereits nach zwei Wochen lernte ich auf einem Fest des Germanistischen Instituts Carlo kennen. Sei vorsichtig mit dem Carlo, sagte mir eine Kommilitonin aus dem dritten Semester, der kann viel zu gut küssen, um treu zu sein. Sie hatte recht. Küssen konnte Carlo, und er deflorierte mich mit einer erstaunlichen Professionalität, für die ich ihm bis heute dankbar bin.
Carlo wusste unglaublich viel. Wenn er die Bücher und die Autoren aufzählte, die er schon gelesen hatte, kam ich mir klein und unwissend vor. Ich war wissbegierig und dachte, dass ich von Carlo viel lernen könne. Stundenlang saß er mit seinen Kumpels in den Hamburger Kneipen und redete darüber, wie alles zu sein hatte, in der künftigen besseren Welt.
Carlo nahm mich zu meinem ersten Teach-in mit. Ich staunte nicht schlecht, dass er, der meist helle Leinenanzüge trug, sich nun in Jeans zwängte und einen alten grünen Parka umhängte. Mir kam es so vor, als maskiere er sich. Mir erzählte er, er habe im vergangenen Semester an der Besetzung des Germanistischen Instituts teilgenommen. Aber ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte.
Überhaupt die Männer: Unglaublich, wie viel sie schwatzen konnten. Ständig zählten sie auf, was sie alles lasen: Marcuse und Adorno, Marx und Weber, Freud und Jung, Sartre und Camus, Hegel und Feuerbach, Korsch und Sohn-Rethel. Sie prahlten mit den Filmen, die sie sahen: Truffaut, Godard, Chabrol. Aber keiner konnte mir etwas erklären,was in den Büchern stand, niemand brachte mir wirklich etwas bei. Alle schwatzten und gaben nur an.
Damals war ich gefallsüchtig, das gebe ich zu, aber den Kerlen konnte man es nicht recht machen. Ich las. Las die Bücher, von denen sie erzählten, ich sah die schrecklich langweiligen Filme von
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