Rebellen: Roman (German Edition)
Godard, doch mitreden ließen sie mich nie. Carlo, der Sohn aus gutem Hause, kannte alle möglichen Dresscodes. Fuhr er zu seinen Eltern, trug er einen schmalen Lederschlips und ein weißes Hemd. Ging er zu seinen Genossen, wählte er Jeans und Parka. Zu mir sagte er: Sei einfach spontaner. Ich hasste ihn dafür.
Ich stand früh auf, kaufte ein, putzte, räumte auf. Carlo pennte bis mittags und fand das revolutionär. Er warf mir vor, ich mache morgens zu viel Lärm. Also schlich ich aus dem Bett, war leise im Bad und in der Küche. Ich war preußisch erzogen, und plötzlich galt ich als bürgerlich. Meine Disziplin, auf die ich stolz war und ohne die ich nie das Abitur geschafft hätte, nannte er preußisch-faschistisch. Wenn Carlo sich mit seinen Soziologen betrank, zogen sie durch die Stadt und brachen Mercedessterne von den großen Autos ab, die sie dann wie Trophäen an eine Schnur gereiht in ihren Küchen aufhängten. Sie konnten alle feiern, saufen und huren, nur nicht arbeiten. Ich konnte damit nichts anfangen.
Eines von Carlos Geboten: Du sollst nicht eifersüchtig sein. Sein Ziel war, mit meinen Freundinnen ins Bett zu gehen und gleichzeitig mit deren Männern befreundet zu sein. Ergaben sich daraus Schwierigkeiten, machte er ihnen Vorhaltungen über ihr bürgerliches Bewusstsein. Ich schämte mich für ihn.
Noch immer wohnte ich bei meinen Eltern, auch wenn ich zwei- oder dreimal in der Woche bei Carlo blieb. Ich brauchte die Pille, dringend, aber ohne Einwilligung der Eltern verschrieb sie damals kein Arzt einer Frau unter einundzwanzig. Ich konnte nur mit meiner Mutter zum Frauenarzt gehen. Und das war unvorstellbar. Carlo scherte sich einen Dreck um die Verhütung, es lag an mir aufzupassen, dass er nicht in mir kam. Entspannt war unser Sex nicht, jedenfalls nicht für mich.
Ich nahm mir ein Herz. Als ich zusammen mit Mama Wäsche aufhängte, sagte ich: »Ich brauch die Pille.«
Das Donnerwetter blieb aus. Sie überraschte mich zum zweiten Mal in meinem Leben. Eine Woche später gingen wir zusammen zu einem Frauenarzt, und der verschrieb mir Eugynon, eine entsetzliche Hormonschleuder, viel zu stark für mich. Die Brüste schmerzten, und manchmal dachte ich, innere Kräfte würden mein Becken dehnen.
Ich verteidigte mein Ego, so gut ich konnte. Mit Reintraud trampte ich nach Amsterdam. Wir hatte beide wenig Geld, aber auf dem riesigen Flohmarkt gab es lila Cordjacken, große Ohrringe, und alles spottbillig.
»Es ist wichtig, dass nicht nur die Ladenmädchen Samthosen tragen«, sagte sie, »sondern auch wir intellektuellen Frauen.«
Trotzdem: Es war keine gute Zeit. Ich war auf der Suche nach einer sinnvollen Existenz. Ich fand sie nicht im Studium, und bei Carlo und seinen Kumpels fand ich sie auch nicht. Ich wurde noch unsicherer. Unsicher im Studium, unsicher beim Sex. Und ich überlegte, ob es in einer anderen Stadt einfacher sein würde.
Ich hatte ein Schminkkästchen aus Perlmutt, das ich sehr mochte, mit einer Farbpalette und kleinen Farbtöpfchen. Wenn man es aufklappte, schillerte es in allen Farben. Ich liebte es. Und dieses Schminkkästchen warf Carlo weg. Es sei bürgerlich. Vielleicht war das schließlich der Anlass, ihn zu verlassen.
Auf meinem alten Westermann-Schulatlas suchte ich die Universitätsstadt, die am weitesten von Hamburg, dem Elternhaus und Carlo entfernt war, und bewarb mich in Freiburg.
In Reintrauds R4 brachen wir auf: Drei Bücherkisten, eine Kochplatte und Bettzeug, alles was ich besaß, passte in dieses kleine Auto. Arm wie eine Nonne, das Bild gefiel mir immer noch, zog ich in den Süden, getrieben von dem Entschluss, einen Halt für mein weiteres Leben zu finden. Noch am ersten Tag verbrannte ich an der Dreisam alle meine Heiligenbildchen.
So war ich, als ich Paul und Alexander kennenlernte.
46. Alexander
Entgegen seinen Befürchtungen schaffte Alexander das Abitur mit einer glatten Eins. Sogar der alte Schluchten war freundlich in der mündlichen Prüfung und wünschte ihm alles Gute für seinen weiteren Lebensweg. Er wurde Jahrgangsbester, mit Belobigung, so wie seine Eltern es von ihm erwartet hatten. Dieser Gedanke verjagte die Freude über die Noten.
Maximilian studierte bereits im zweiten Semester Maschinenbau in Karlsruhe. Und so stellte es sich der Vater auch für ihn vor. Maschinenbau, Betriebswirtschaft, irgend so einen Scheiß.
»Soziologie?«, fragte der Vater entgeistert, als er von Alexanders Plänen erfuhr. »Wenn dein Bruder Maschinenbau
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