Rebellen: Roman (German Edition)
die Schnipsel zu Boden fallen. Applaus gab es dafür schon, aber die Stiftung machte ihre Drohung wahr, Mischa flog aus dem Stipendienprogramm. Er jobbte in der Mensaküche. Aber es reichte nicht. Ein paar Monate nachdem Alexander das Studium angefangen hatte, musste Mischa es abbrechen.
Schande über die Hans-Böckler-Stiftung!
Hubert Delius war Studienanfänger wie er, allerdings studierte er Soziologie im Neben- und Volkswirtschaft im Hauptfach. Seine Eltern betrieben einen großen Gasthof im Schwarzwald und hätten es viel lieber gesehen, wenn der Sohn sich auf Betriebs- und nicht auf Volkswirtschaft verlegt hätte. Aber Hubert beschäftigte die Frage, wie die Welt in ihrem Kern funktionierte, und er erwartete von seinem Fach Auskunft darüber.
Alexander machte seine erste Praxisarbeit zusammen mit Hubert; Thema: eine Untersuchung über den Ladendiebstahl. Mit dem Wissen und der Erlaubnis der jeweiligen Geschäftsleitungen zogen sie zu zweit durch Freiburgs Kaufhäuser und stahlen Haferflocken, Toastbrot, Käse, Milch, Wein und Champagner, was immer sie am Abend essen und trinken wollten. Sie wollten herausfinden, in welchem Verhältnis die Normverletzung des Ladendiebstahls zu den Sanktionen des Erwischtwerdens stand. Vierzehn Tage lang lebten sie herrlich von dem exquisiten Diebesgut. Dann wurde die Untersuchung eingestellt, weil sie nie erwischtwurden. Das eigentliche Ergebnis der gescheiterten Studie war, dass Alexander und Hubert Freunde wurden. Den Abbruch ihrer Arbeit feierten sie im Gasthof von Huberts Eltern oben in Gengenbach.
47. Paul
Die Kapitalschulung war beendet – und Paul ein neuer Mensch. Er wusste nun, wie die Welt funktionierte. Mach aus Geld mehr Geld, in der Marx’schen Formel G-W-G. Dieser Mehrwert wurde erarbeitet von den Arbeitern, die mehr Wert schufen, als sie Lohn für ihre Arbeit erhielten. Dieser Mehrwert machte Herrn Heppeler junior reich.
Meine Arbeit macht ihn reich.
Strunz macht Heppeler junior reich.
Schwer auszuhalten, wenn man das begriffen hatte.
Mischa schlug als Nächstes die Lektüre von Lenins »Was tun?« vor. Alexander verließ die Schulungsgruppe, weil er am Institut für Soziologie genug zu tun hatte. Stattdessen schleppte Paul Strunz mit. Reinhold, ein Lehrling vom Herder-Verlag, der zum Verlagsbuchhändler ausgebildet wurde, wollte ebenfalls mitmachen. Das löste eine Debatte darüber aus, ob kaufmännische Lehrlinge überhaupt dabei sein durften.
»Der gehört ja nicht zur Arbeiterklasse«, sagte Ryder. »Also hat er bei uns auch nichts zu suchen.«
»Vielleicht ist er ein Spitzel vom Verfassungsschutz?«, sagte Manni.
Da rastete Reinhold aus: »Was seid ihr denn für Arschlöcher? Die Lehrlinge von Herder, die gegen die Fahrpreiserhöhungen demonstriert haben, wurden abgemahnt. Wirseien die Elite der Verlagslandschaft, und da gehöre es sich nicht, auf die Straße zu gehen, haben sie uns gesagt. Und jetzt seit ihr genau solche Idioten wie die Herder-Kapitalisten.«
Das imponierte. Reinhold durfte mitmachen.
Lenin gefiel den Lehrlingen nicht so gut wie Marx. Lenin behauptete, dass das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse von außen in sie hineingetragen werden müsse. Das sei die Aufgabe der revolutionären Intelligenz. Ryder und Manni meinten, die Arbeiter bräuchten keine Hilfe von außen. Paul war sich in dieser Frage nicht sicher. Strunz sagte, die erwachsenen Kollegen bei Heppeler seien so verblödet, dagegen käme auch die revolutionäre Intelligenz nicht an. Das habe man doch bei den Straßenbahnaktionen gesehen. Die zahlten lieber mehr, als auf die Straße zu gehen.
»Alle, die älter sind als wir, sind für die Revolution verloren«, sagte er.
Die Lenin-Schulung verlief im Sande.
Bernie, ein anderer Student, führte die Ökonomieschulung weiter. Jetzt beschäftigten sie sich auch mit den bürgerlichen Ökonomen, lasen Schumpeter und Keynes. Das Fenster öffnete sich weiter.
Mischa nahm Paul und Strunz zur Seite.
»Wieso gibt es bei Heppeler eigentlich keine Jugendvertretung?«
Paul sah Strunz an. Beide zuckten mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Dafür brauchten sie das Betriebsverfassungsgesetz. Wieder Lektüre.
Horst Wagner war dagegen: »Eigentlich braucht ihr das nicht. Der Betriebsrat kümmert sich um alles, auch um eure Belange.«
»Wie bei den Haaren«, sagte Strunz.
Wagner sah ihn mit offener Abneigung an. »Es steht euch natürlich zu. Wenn ihr kein Vertrauen zu mir habt.«
»Nicht so richtig«, sagte
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