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Rebellen: Roman (German Edition)

Rebellen: Roman (German Edition)

Titel: Rebellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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parallel, sich aus dem Leben zurückzuziehen. Die Seele zieht sich aus dem Körper zurück und nimmt die Sexualität mit; und der Körper zieht sich aus dem Leben zurück – manchmal bis in den Tod.

57. Toni
    Für mich war es eine gute Zeit. Einerseits. Meine Erwartungen an das Studium waren nicht mehr so hoch, ich wollte so schnell wie möglich das Diplom in der Tasche haben, um dann endlich das zu tun, was ich wollte: ein sinnvolles Leben führen, anderen mit meiner Ausbildung helfen. Ich engagierte mich in der Fachschaft und arbeitete in der Basisgruppe Psychologie mit an der Herausgabe unserer Zeitung, die wir Die rote Ratte nannten, damals noch kein Statement gegen Tierversuche; Tiere waren uns damals ziemlich egal. Aber hauptsächlich studierte ich.
    Alexander und ich galten als Traumpaar, wir verstanden uns gut. Hin und wieder lief ich nachts zu Paul in diese ganz andere Welt, zu diesen ganz anderen Gesprächen und diesem ganz anderen Sex. Manchmal gingen wir auch zu dritt in die Tangente oder den Roten Punkt, und dann hielten Paul und ich so demonstrativ Abstand, dass ich es fast zu auffällig fand, aber Alexander bemerkte nichts, oder er wollte dieses Magnetfeld nicht bemerken, dem ich mich nicht entziehen konnte, wenn Paul in meiner Nähe war.
    Er bastelte immer noch an seinen merkwürdigen optischen Geräten. Ein eigenartiges Hobby, das aber alle akzeptierten wie eine liebenswürdige Marotte, außer Ernst, einem seltsamen Vogel, der meinte, Paul solle seine Zeit lieber mit dem Studium der Mao-Tse-tung-Ideen verbringen.

    An einem kalten Dezembertag lud uns Paul zu einer denkwürdigen Aufführung ein. Er hatte die Fenster seiner Bude komplett mit schwarzer Pappe abgedunkelt und nur an einer Stelle sorgfältig ein kleines Loch gebohrt. Alexander und ich, Mischa und Ernst, Strunz und Elli, zwei Kollegen von Paul, saßen in absoluter Dunkelheit im hinteren Teil seiner Wohnung. An der Wand schimmerte der kleine Lichtfleck, der durch das Loch in der schwarzen Pappe fiel. Paul erklärte uns, das sei das genaue Abbild der Sonne. Er schob dann einen merkwürdig geformten Spiegel vor den Lichtstrahl, der ihn umleitete und vergrößert gegen die weiß gestrichene Wand auf der linken Seite warf, jetzt groß wie ein Fußball. Das Innere des Kreises, der Sonne, schien sich zu bewegen, irgendwie zu leben.
    Wir mussten endlos warten, machten Witze über diesen langweiligen Film, doch dann schob sich langsam und deutlich ein schwarzer Schatten über die Sonne. Wir waren beeindruckt, so deutlich und ohne jede Sonnenbrille habe ich nie wieder eine Sonnenfinsternis sehen können wie an diesem Dezembertag 1973. Das kosmische Spektakel der Außenwelt drang durch ein kleines Loch in diese seltsame Wohnung.
    Andererseits war es eine schlechte Zeit. Die beiden Männer, die ich liebte, gerieten in meinen Augen auf eine abschüssige Bahn. Wir diskutierten und diskutierten, aber es war sinnlos. Alexander und Paul versuchten, mich davon zu überzeugen, dass eine revolutionäre Welle bevorstünde. Man müsse vorbereitet sein, und dazu brauche es eine kommunistische Partei, die das alles in die richtigen Bahnen lenke.
    Ich hielt das alles für Quatsch. Alexander führte jeden popeligen Lohnkampf der IG Metall als Indiz für die revolutionäre Welle an. Streik im Saarland. Stell dir vor, jetzt sogar im Saarland, sagte er. Dann kamen die wilden Streiks im Ruhrgebiet. Es geht los, frohlockten sie. Ich zeigte ihnen dieStreikstatistiken anderer europäischer Länder, Deutschland war immer ganz weit entfernt von den Zahlen in Frankreich oder England, und selbst dort war von Revolution nichts zu sehen. Aber sie hörten mir gar nicht mehr zu. Ich war eben noch zu bürgerlich, um das alles richtig einzuordnen. Das erinnerte mich an Carlo, und ich wurde sauer. Wir stritten immer öfter.
    Zum anderen störte es mich, dass sie in unpassende historische Kostüme schlüpften. Als seien sie nicht bei Trost, studierten sie die Russische Revolution, lasen Lenin, bis ihnen die Augen tränten, und redeten scheußliches Zeug von der Diktatur des Proletariats daher. Pauls Freund Strunz hielt erstaunlicherweise zu mir. Er sagte, eine Diktatur seiner Kollegen bei Heppeler wäre eine Diktatur der Spießer, in der er nicht leben wollte. Elli, die wohl ein wenig in Paul verliebt war, hörte unserem Streit zwar aufmerksam zu, hielt sich aber mit eigenen Kommentaren zurück.
    Sie drehten alle langsam durch. Aber trotz ihres politischen Irrsinns dachte keiner von

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