Rebellin der Leidenschaft
feinen roten Wollumhang um die Schultern und machte sich auf den Weg nach Tarent Hall. Als es so weit war, war sie ein einziges Nervenbündel. Tagsüber hatte sie sich immer wieder damit herumgeplagt, ohne Begleitung den Ball zu besuchen, doch schließlich hatte sie alle Bedenken zerstreut. Man hatte sie herausgefordert und sie war kein Feigling: Sie würde auf den Maskenball gehen, komme, was wolle.
Immer wieder befiel sie die Angst, dass sie diesen Abend noch bereuen würde. Es wäre weitaus vernünftiger gewesen, Stacy Worthington zu vergessen und zu Hause zu bleiben, wie es sich für eine sittsame junge Lady gehörte.
Aber dazu war es jetzt zu spät. Nicole betastete den orangefarbenen Unterrock und den leuchtend rosafarbenen Rock, den sie unter dem Umhang trug. Sittsam war sie eigentlich nie gewesen - sie hatte von jeher etwas Wildes an sich gehabt. Das hatte sie wohl von der Seite ihres Vaters; so behauptete es zumindest die Mutter, auch wenn der Graf stets darauf beharrte, dass die Missachtung der Konventionen eher ein Wesenszug der Bar-clays sei. Mit dreiundzwanzig war sie reif und ehrlich genug sich selbst gegenüber, diesen ungewöhnlichen Wesenszug zu erkennen und zu akzeptieren. Ihrer Wildheit war es zuzuschreiben, dass sie Stacys Kampfansage angenommen hatte, und diese Charaktereigenschaft trieb sie jetzt wider besseren Wissens weiter.
Nicole hatte die Regeln und Konventionen, an die sich die Frauen ihrer Zeit gebunden fühlten, stets gehasst. Zum Glück war sie nicht allein, auch wenn die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlte - angeführt von Suffragetten und Rebellinnen wie Elizabeth Cady Stanton und ihrer Tante, Grace Bragg -, eine radikale Minderheit bildete. Von Frauen wurde erwartet, sich ausschließlich mit sanften, damenhaften Dingen wie Blumenarrangements und Aquarellmalerei zu beschäftigen. Als ihre Hauslehrerin versucht hatte, ihr diese Dinge beizubringen, hatte die achtjährige Nicole wütend rebelliert. Sie sollte tagaus, tagein Rosen malen, während Chad, Ed und ihr Vater über Dragmore preschten und sich um die Pächter, Ländereien und Tiere kümmerten? Niemals!
Doch selbstverständlich hatte sie all dies lernen müssen und sich traurig gefügt. In ihrer freien Zeit aber folgte sie den männlichen Wesen ihrer Familie auf Schritt und Tritt und durfte schließlich sogar an den Ausritten teilnehmen, nachdem sie ihre Pflichten erledigt hatte - eine Freiheit, die eine junge Lady aus gutem Hause sonst nirgendwo genoss. Ihre ganze Kindheit lang, ja, bis ins junge Erwachsenenalter hinein hatte sie zutiefst bedauert, dass sie kein Junge war. Wenn sie nicht mit ihren Brüdern und ihrem Vater unterwegs war, beschäftigte sie sich mit Büchern. Sie las alles, von Byrons sinnlichen Gedichten bis zu John Stuart Mills »Die Rechte der Frauen«. Ihre Familie machte sich über ihre Vorlieben keine weiteren Gedanken, bis sie plötzlich eine erwachsene Frau war, doch selbst dann bemühten sich alle noch nach Kräften, ihre unkonventionelle Art zu ignorieren.
Sie würden tot Umfallen, wenn sie sie jetzt sehen würden.
Nicole hatte nur drei Tage Zeit gehabt, sich ein Kostüm zusammenzustellen, aber dieses Problem hatte sie gelöst, indem sie den riesigen Dachboden des Anwesens durchwühlt hatte. Ihre Mutter, Jane Barclay, war eine bekannte Schauspielerin gewesen, bis sie einige Jahre nach ihrer Eheschließung ihre viel versprechende Karriere aufgegeben hatte, um sich ganz ihren Kindern, ihrem Mann und Dragmore zu widmen. Die Schauspielkunst hatte ihr im Blut gelegen, denn Jane war in die Fußstapfen ihrer Mutter, der berühmten, unvergleichlichen Sandra Barclay getreten. Auf dem Dachboden lagerten deshalb zahllose wundervolle Kostüme in großen Truhen.
Nicole beschloss, sich als Zigeunerin zu verkleiden; mit ihrem Äußeren und den farbenfrohen Kleidern, die sie auf dem Dachboden gefunden hatte, wirkte sie nun tatsächlich sehr echt. Freilich war das Kostüm gewagt und kaum als züchtig zu bezeichnen. Die Bluse bot einen freizügigen Blick auf ihre Schultern und der Rock reichte ihr nur bis knapp über die Knie. Aber Zigeuner - zumindest hatte ihr das die dreizehnjährige Annie versichert - liefen immer in kurzen Röcken und barfuß herum. Nicole hatte damit keine Probleme. Allerdings würden Stacy Worthington und ihrer kleinen Freundin wohl die Augen übergehen, wenn sie sie so sahen, zumal sie sicher gar nicht mit ihr gerechnet hatten.
Lächelnd lehnte sie sich auf der ledernen Bank der großen
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