Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang. Das ist alles.«
»Kein Wunder, dass Sie Charlotte nie davon erzählt haben. Selbst wenn Sie nicht angenommen hätten, dass Charlotte Sie für verrückt hält, hätte es doch sehr großer Liebe bedurft, das Leben mit einem Mann zu verbringen, der nie richtig ans Tageslicht kann.«
»Ja«, sagte Raeburn einfach.
Sie saßen schweigend zusammen. Im Bewusstsein, dass jeder Moment sie der Trennung näher brachte, sog Victoria seine Anwesenheit förmlich in sich auf. Sie wollte sein Gesicht studieren, wollte es im Gedächtnis behalten, so verbrannt es auch war. Doch sie fürchtete, er könne es als makabre Faszination missverstehen. Also richtete sie die Augen blicklos auf das kleine Stück Auffahrt, das sie durch den Spalt in den Vorhängen sehen konnte, und konzentrierte sich auf Raeburns Präsenz, seine Wärme, den Duft seiner Haut. Sie wünschte, sie würde all das bei ihrer Abreise mitnehmen können.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dasaß, als das Flackern einer Bewegung auf der Auffahrt sie zurückholte. Sie sah, wie eine kleine Gestalt sich näherte. Wieder einmal Annie, aber diesmal nicht allein. Als sie in das Sichtfeld kam, das der Spalt in den Vorhängen bot, stellte Victoria fest, dass Andrew neben ihr ging.
Victoria verspürte einen unangenehmen Schauer, denn Andrew gestikulierte wild, und Annie schüttelte immer wieder abrupt den Kopf.
»Raeburn, können Sie das sehen?« Sie zeigte zum Fenster.
Sie spürte seine Bewegung, als er ihr über die Schulter spähte, doch sie ließ das kleine Drama, das sich tonlos unten abspielte, nicht aus den Augen. Noch mehr Gesten, noch mehr Kopfschütteln. Dann hörte Andrew schlagartig auf und packte Annie bei den Schultern. Er redete auf sie ein, und Annie schüttelte immer nur den Kopf. Schließlich ergriff Andrew ihre Hand und fiel vor ihr auf die Knie. Sie versuchte, ihn hochzuziehen, doch er verharrte auf dem Boden, dem Fenster den Rücken zukehrend.
»Er bittet sie, ihn zu heiraten!«, sagte sie staunend.
Raeburn grunzte. »Sie scheint von der Vorstellung nicht sonderlich angetan zu sein. Ich hatte gedacht, sie seien so gut wie verlobt.«
Aber Annies Kopfschütteln ließ schon etwas nach.
»Gib ihr Zeit«, flüsterte Victoria.
Nach einer Weile hatte sich Annies Widerstand vollkommen gelegt. Sie stand ganz still da, während Andrews Kopf sich weiterhin bewegte, und schließlich nickte sie langsam.
Andrew sprang auf und riss sie in einen leidenschaftlichen Kuss und vor lauter Überschwang in die Luft.
Victoria schaute Raeburn an. »Ich beneide die beiden schon fast.«
»Um ihre Jugend? Ihren Enthusiasmus? Ihren Optimismus?« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Ihre einfache Art. Ihre naive Courage. Es kann so viel schief gehen, es wird so viel schief gehen, aber sie stellen sich alledem, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»So wie Sie damals auch, soweit ich das Ihren Erzählungen entnehmen konnte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass sie nicht auch die gleichen Lektionen lernen müssen.«
»Warum hoffen Sie nicht einfach, dass Sie zu vergessen lernen?« Seine Stimme war ernst.
Victoria betrachtete wieder das sich umarmende Pärchen und hatte ein hohles Gefühl im Magen. »Wenn ich es nur könnte, es wäre es wert, all den Schmerz noch einmal durchzumachen.«
Als Annie mit dem Mittagessen erschien, hatte sie immer noch gerötete Wangen und lächelte – Letzteres ein höchst seltener Anblick, wie Byron überrascht feststellte. Sie stellte das Tablett auf der Truhe ab und zog sich zur Tür zurück, wo sie unschlüssig herumstand und mit den Händen ihre Schürze zerknüllte.
»Ja?«, sagte Byron und ignorierte Victorias amüsierte Seitenblicke.
»Euer Gnaden …« Annie errötete noch heftiger. »Euer Gnaden, Andrew und ich werden heiraten«, kam es schließlich wie ein Sturzbach heraus, und sie senkte den Blick.
»Ich habe Andrew das Pförtnerhaus versprochen, aber erst wenn Silas einmal nicht mehr lebt«, sagte Byron in einem beiläufigen Ton.
Annie sah mit leuchtenden Augen auf. »Oh, ich weiß, Euer Gnaden! Es ist nur so, dass Silas wahrscheinlich ewig lebt, und Onkel Tom hat mich gefragt, ob ich mit nach Leeds kommen möchte, weil ich hier sonst gar keine Familie mehr habe, also hat Andrew gesagt, dass er jetzt meine Familie ist.« Sie reckte das Kinn vor mit einem Elan, wie ihn Byron noch nie an ihr gesehen hatte. »Ich hoffe, Sie geben uns Ihren Segen, und wir können weiter für
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