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Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Rebellin der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Joyce
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Tagesdecke gestickt hatte. Die Kammer wirkte so düster geheimnisvoll wie der Hausherr, und Victoria fühlte sich plötzlich sehr allein.
    Was hielt Dyer so lange auf?
    Sie verdrängte die kindliche Wehleidigkeit – eine Wehleidigkeit, in die sich mehr als nur ein Anflug von Angst mischte, wie sie sich eingestand. Es konnte schließlich noch nicht Zeit zum Abendessen sein. Sie würde einfach warten müssen, klammes Reisekleid und dunkles Zimmer hin oder her. Sie hatte zumindest die Öllampe. Hätte man sie hier mit einer Kerze, oder – Gott behüte – einem Sturmlicht oder einer Fackel zurückgelassen, sie hätte vermutlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestanden, bis ihre Zofe erschien.
    Victoria ging zu dem rauchigen Feuer, das im Kamin glomm, zog die Glacéhandschuhe aus und hielt die Hände über die zögerlichen Flammen. Während die Steifheit aus ihren Fingern wich, studierte sie weiter den Raum. Er glich sehr, sehr dem Herzog. Kalt. Bedrohlich. Sonderbar schön...
    Die Begegnung war das Verwirrendste, das ihr je widerfahren war. Sie fühlte sich, als tanze sie auf Treibsand Walzer, aber fast wie durch Magie war sie nie wirklich versunken. Glücklicherweise hatte sie ihren ursprünglichen Plan, ihm zu schmeicheln, aufgegeben. Der Herzog wollte keine Unterwürfigkeit; er sehnte sich nach einer Herausforderung. Und sie war mehr als willens, ihm eine zu verschaffen, dachte sie mit frischem Zorn.
    Sie seufzte. Der Zorn erstarb, kaum dass er geboren war. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und eine Woche in Gesellschaft des Herzogs zu verbringen, erschien ihr immer noch eher reizvoll als abstoßend. Bald würde sie endlich wieder in den Armen eines Mannes liegen, eines Mannes, der allen Gerüchten zufolge wusste, wie man eine Frau verwöhnte. Bei der Vorstellung überkam sie ein Schauer, eine Art unwohler Vorfreude. Sollten diese Gerüchte sich als wahr erweisen... Aber was war mit den anderen? Er war sicherlich sonderbar, und manche tuschelten von einer ererbten Krankheit des Geistes oder des Körpers. Etwas, das nicht mit ihm stimmte und ihn von Geburt an verfolgt und verunstaltet hatte. All das erschien ihr bei weitem zu grotesk und trübsinnig.
    Sie wünschte, sie hätte ihn schon früher getroffen, in jenen Tagen, als er die Londoner Salons frequentiert hatte, aber ihre Wege hatten sich nie gekreuzt. Er war mit Lebemännern im Umfeld ihres Bruders unterwegs gewesen, sie hatte fest zu ihren eigenen konservativeren Kreisen gehalten. Doch bis jetzt hatte sie nichts Bedrohlicheres an ihm entdecken können als eine instinktive Arroganz und einen Hang zur Melancholie. Sie fragte sich, ob er je lächelte, wirklich lächelte, und versuchte sich vorzustellen, wie seine breite Stirn sich entspannte und seine wandelbaren Haselnussaugen vor Freude strahlten …
    Sie lenkte ihre Gedanken von jenen Pfaden ab, doch sie schlugen schnell andere, fast ebenso beunruhigende Wege ein. Falls dieses Anwesen eines von jenen zerbröckelnden Herrenhäusern war, wie sie in Schauerromanen allgegenwärtig waren, dann würde sie hinter dem riesigen Gobelin mit Sicherheit eine verborgene Tür finden, die zu einem Labyrinth aus geheimen Gängen führte, das sich in die altertümlichen Tiefen der düsteren Festung wand. Sie stand lange Zeit einfach nur da, starrte die Wand an und sagte sich, mach dich nicht lächerlich. Doch ihr Unbehagen wuchs, bis ihr nichts anderes übrig blieb, als nachzusehen. Sie durchquerte den Raum und kam sich wie eine Närrin vor, während das Klicken ihrer Absätze vom Rippengewölbe der Decke widerhallte. Sie stand vor dem kunstvollen Wandbehang und versuchte, sich einzureden, dass da nichts war. Es war sinnlos.
    Seufzend zog sie den Gobelin hoch – und stieß auf eine glatte graue Steinfläche. Sie zog die andere Seite weg – wieder nichts. Kein Türumriss, keine verdächtig tiefen Sprünge, keine sonderbaren Beschläge, keine andersfarbigen Stellen. Nichts als Wand. Halb enttäuscht und halb erleichtert drehte sie sich weg.
    Das nasse Kleid, das sie in der formidablen Gegenwart des Dukes vergessen hatte, wurde zunehmend unbehaglich. Was hielt Dyer auf? Victoria betätigte den Klingelzug neben dem Bett und hoffte, er werde ihr eine Zofe holen oder zumindest irgendjemanden aus den Tiefen des Hauses, der ihr beim Umkleiden half.
    Sie legte den Vertrag auf den Nachttisch, nahm auf der gepolsterten Fensterbank Platz und wartete. Trotz des nur schwachen Lichts des Kaminfeuers war es schwierig, durch die

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