Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
der Hand nahm und ihr den Umhang von den Schultern zog, ohne abzuwarten, bis Victoria ihr beides reichte.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Victoria, aber die Frau schimpfte weiter auf das Dienstmädchen ein, während die beiden sich ins Haus zurückzogen.
Victoria stand peinlich berührt neben dem Herzog. Von den zarten Banden zwischen ihnen war nichts mehr übrig, bis auf die Erinnerung daran und das halb erleichterte, halb bedauernde Wissen, dass es vorbei war.
Raeburn zog eine Augenbraue hoch, sein Gesichtsausdruck absolut neutral. »Ich habe Arbeit zu erledigen. Ich fürchte, das Haus hat kaum Ablenkung zu bieten, aber rufen Sie nach einem der Dienstmädchen und lassen Sie sich die Bibliothek zeigen.«
»Danke«, sagte Victoria, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Er runzelte die Stirn. »Finden Sie allein auf Ihr Zimmer?«
Victoria fragte sich, was er mit ihr gemacht hätte, wenn sie log und Nein sagte, aber sie antwortete wahrheitsgemäß. »Ja, auch wenn es vermutlich der einzige Raum ist, von dem ich das behaupten kann.«
Raeburn nickte knapp. »Dann schicke ich Fane, um Sie zum Dinner abzuholen. Bis dahin, Circe.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging.
8. Kapitel
Byron wusste, er war dicht dran; so dicht, dass er ihr Geheimnis schon fast schmecken konnte. Nur ein klein wenig Zeit noch, und er hielt die Lösung über diese rätselhafte Frau in Händen.
Doch wollte er es wirklich wissen?
Er starrte die Tür an. Falls sich Victorias Charakter mit Hilfe einer trübsinnigen Geschichte aus ihrer Vergangenheit erklären ließ, falls es für all ihre Komplexität einen simplen Grund gab, hätte ihn das... enttäuscht. Sobald es kein Rätsel mehr gab, gab es auch keinen Anlass für Interesse, und die verbleibenden Tage würden zu einer routinierten, wenn auch angenehmen Ausschweifung werden.
Aber seiner Neugier schadeten diese Überlegungen nicht. Die Chance, dass da mehr war als nur ein alter Schmerz, der sich bis zur Bedeutungslosigkeit zerreden ließ, mehr als die bitteren Konsequenzen eines Dramas, das sich schon vor Jahren abgespielt hatte, beflügelte seine Neugier.
Aber dass ihr letztes Gespräch ihn schon den ganzen Nachmittag über verfolgte, lag nicht an seinem Wunsch nach Ablenkung. Es hatte ihn bis vor ihre Tür getrieben, weil er nicht warten konnte, bis er sie am Abend wiedersah. Er spürte eine Verbindung zwischen ihnen beiden, die mit Lust nichts zu tun hatte und die mit jeder Stunde in ihrer Gesellschaft stärker wurde. Es war ein Gefühl, das ihm gänzlich fremd war, an das er sich neuerdings aber gewöhnen musste.
Er hatte über ein Jahrzehnt lang jedes dreckige Pub aufgesucht, jede fragwürdige Gesellschaft und jedes schmuddelige Bordell, das die Londoner Lebemänner frequentierten. Er hatte sich in seiner kleinen Wohnung an der Baker Street eine Mätresse nach der anderen gehalten, hatte sich flamboyant gekleidet und gebärdet wie der geborene Taugenichts. Mysteriöse Gerüchte, wie sie unausweichlich hatten aufkommen müssen, hatten den designierten Erben Raeburns umweht. Doch statt zurückzuschrecken, hatte er absichtlich übertrieben, bis die langen Umhänge und die exzentrisch späten Stunden ein Teil von ihm wurden wie das herbe Gesicht und das schwarze Haar. Bis Leticia seine Welt zertrümmert hatte.
Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, er habe sie nicht geliebt. Das war die größte Ironie von allen. Nein, es war nicht Leidenschaft gewesen, sondern verletzter Stolz, der ihn zu der wütenden, überstürzten Flucht aus London veranlasst hatte. Drei Nächte lang war er wie ein Verrückter nach Norden geritten, ohne auch nur einen einzigen Diener mitzunehmen. Dann hatte er, immer noch halb verrückt vor Zorn, jenen unbesonnenen Brief geschrieben, mit dem er sein gesamtes Personal entlassen hatte...
Er schüttelte die Erinnerungen ab und klopfte an die Tür.
»Herein«, ertönte es augenblicklich, und Byron drückte die Tür auf.
Victoria saß am Fenster und hielt ein Blatt Papier ins Licht des regnerischen Nachmittags. Ihre scharfen Gesichtszüge wurden von den Strähnen gemildert, die ihrer Frisur während der Ausfahrt zum Witwenhaus entflohen waren und die sich jetzt, im grauen indirekten Sonnenlicht, wie eine zarte Korona um ihr Gesicht legten. Im Sitzen, wenn ihre Größe nicht auffiel, sah sie nicht so robust aus, sondern zarter und genauso verflucht begehrenswert wie in der Schwärze der Kutsche. Sie straffte die Schultern, als er auf sie
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