Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
ganze Woche den massiven Bruch sämtlicher Regeln darstellte, die die feine Gesellschaft je gekannt hatte. Also ließ sie die Handschuhe in den Hut fallen und ließ ihn an den Kreppbändern baumeln, während der Duke sie zur wartenden Kutsche eskortierte.
Diesmal war sie nicht peinlich berührt, als sie sich in der Dunkelheit zurechtsetzte. Die Kutsche schwankte, als hinten der Lakai aufstieg, und ruckelte, als die Pferde sich in Gang setzten, fort vom Witwenhaus. Einem Haus, das wie gemacht für Kinder war; für einen Mann, seine Frau und ihre fröhlichen Nachkommen.
»Sie haben das Haus geplant, als Sie noch vorhatten, sich zu verheiraten, nicht wahr?«, sagte Victoria leise.
»Ja«, sagte der Herzog. Die Antwort war knapp, aber nicht unwirsch.
Victoria ließ die Stille zu, bis Raeburn irgendwann seufzte: »Wir wollten heiraten, sobald es fertig ist. Sie hat die Pläne nie gemocht, fürchte ich. Sie dachte, das Haus sei für eine Herzogin zu bescheiden, und für Fragen der Ästhetik hat sie sich nie interessiert. Ich wusste nicht, wie sehr es ihr missfallen hat, bis es zu spät war. Aber selbst hinterher hatte ich nie den Wunsch, es zu verändern. Es erschien mir irgendwie richtig.«
»Sie müssen sie sehr geliebt haben.« Lieben und leiden – war das der Gang der Welt?
Er lachte bitter. »Leticia? Niemals. Sie war – ist – schön, und ich habe sie bewundert, so wie ein Mann ein Kunstwerk bewundert. ›Zu schön für diese Welt...‹ Aber nein, ich habe sie nicht geliebt. Ich habe die Vorstellung geliebt, ihr Bildnis vielleicht, aber nicht die Frau. Ich glaube nicht, dass ich die letzten zwölf Jahre über irgendetwas so Konkretes wie eine Frau geliebt habe.«
Also hatte er irgendwann geliebt. Victoria fragte sich, was geschehen war. Jetzt schien er sich jedenfalls so geben zu wollen, als sei er zu keinen Gefühlen fähig. Und Victoria konnte das nicht glauben.
»Sie lieben das Haus«, sagte sie. »Es lässt sich schwerlich etwas Konkreteres finden, auch wenn es nicht lebendig ist.«
»Häuser urteilen nicht und verabscheuen auch niemanden. Ein Haus zu lieben ist leicht.« Seine Art hatte etwas Beiläufiges, aber unter seinen Worten verbarg sich ein Schmerz, der ihr wehtat.
Sie beugte sich impulsiv vor und tastete im Dunkeln nach seinen Händen. Sie fühlten sich sogar durch die Handschuhe kalt an, aber sein Griff war fest und gab der blinden Leere der Kutsche eine Solidität, die ihr warm durch den Körper strömte, gefolgt von dem erdrückenden Gefühl seines Körpers, der unsichtbar war, aber ganz nah. Sie hörte Raeburns Atem stocken, als er es gleichfalls bemerkte. Einen atemlosen Moment lang saßen sie erstarrt und mit ineinander verschränkten Händen da, dann zog Raeburn sie an sich.
Ihre Lippen fanden einander blind. Victorias Krinoline bauschte sich gegen Raeburns Beine, doch sie ignorierte es. Ihr einziger Gedanke galt der stoppeligen Wange unter ihrer Hand, der harten Sanftheit seiner Lippen, dem warmen Geschmack seiner Zunge, die ihren Mund liebkoste. Ihre Stirn stieß an die Krempe seines Huts, und sie schob ihn ungeduldig weg. Ihre Finger gruben sich unter den Seidenschal und in die dunklen Locken an seinem Nacken. Sie waren fein und seidig wie die Locken eines Kindes.
Die Kutsche blieb ruckelnd stehen. Victoria nutzte den Schwung und ließ sich nach hinten in die Polster sinken, aber sie entzog Raeburn nicht die Hand, auch dann nicht, als der Lakai den Schlag öffnete und den Tritt herunterklappte. Der Herzog zog seinen Schal zurecht und schob den Hut an seinen Platz, dann ließ er sie los – bildete sie sich das nur ein, oder hatte er gezögert? – und stieg aus der Kutsche in den nebligen Nieselregen. Victoria folgte ihm, nahm seinen Arm und lief mit ihm hastig die paar Schritte zum Haus.
Dort angekommen, verdrängte die sich nahende Haushälterin alle zarten, sehnsüchtigen Gefühle.
»Sie waren ja so lang weg!«, rief sie, während sie mit einem düster gekleideten Dienstmädchen im Schlepptau angerauscht kam. »Haben Sie auch den Hut aufbehalten, Euer Gnaden? Sie wissen doch, was für Sorgen ich dumme alte Frau mir mache.« Sie rang die Hände. »Nun sieh sich einer Ihre Ladyschaft an! Die Röcke! Der Hut! Was ist Ihnen beiden nur passiert?«
»Überhaupt nichts, Mrs. Peasebody«, sagte Raeburn trocken und reichte dem Dienstmädchen Mantel, Schal und Hut.
»Peg, du kümmerst dich als Erstes um Ihre Ladyschaft«, geiferte Mrs. Peasebody, während sie Victoria den Hut aus
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