Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
Jahre alt.
Wahnsinn. Sie wusste, dass es Wahnsinn war, aber sie ließ sich dennoch davon erfassen, lachte und wirbelte über das Unkraut, vergaß die Nässe und das feine Kleid aus schierer Freude am Augenblick. Raeburns feines Kleid, erinnerte sie sich, und ihr Lächeln wurde breiter. Und wenn er nach ihr suchte? Sollte er doch! Sie blieb stehen, reckte die Arme zum wolkenverhangenen Himmel, atmete tief die süße feuchte Luft ein, die Regen versprach. Wie lange war es her, dass sie etwas so Spontanes, Ungestümes getan hatte? Abgesehen von den täglichen Ausritten auf Rushworth, konnte sie sich an nichts erinnern, als sie sich einfach nur gehen lassen hatte.
Sie zerrte die Handschuhe von den Händen, riss sich den schwarzen Hut vom Kopf, warf ihn auf den Boden und hob das Gesicht zum Himmel, um die ersten Regentropfen einzufangen. Seit fünfzehn Jahren war sie unangreifbar respektabel, und was hatte es ihr gebracht? Sie verfügte über eine gewisse Macht, was die Führung der Grafschaft anging, und konnte gesellschaftliche Karrieren fördern oder ruinieren, indem sie die Gästeliste fürs Dinner abänderte.
Aber zu welchem Preis? Auf jedes Wort und jedes Lächeln zu achten, sich im Schatten zu halten, sich mit grotesken Kleidern unerwünschte Verehrer vom Leibe zu halten – unerwünscht nicht, weil sie frigide war, sondern weil sie es nicht wagte, sich sogar auf das diskreteste Werben einzulassen. Weil sie wusste, dass sie eine gefallene Frau war und ein geflüstertes Wort reichte, sie ins Verderben zu stürzen...
Sie packte den Rock, die weiche pastellfarbene Seide bauschte sich unter ihren Händen – das erste helle Seidenkleid seit… der Schmierenkomödie, die fast ihr Leben kaputtgemacht hatte. Eine Tragödie konnte sie es nicht nennen, dazu war es nicht nobel genug. Sie spürte, wie der Stoff sich spannte, und hielt inne, war sich nicht sicher, ob sie sich an der Seidigkeit erfreuen oder den Stoff mit bloßen Händen zerfetzen sollte. Sie ließ den Rock los. Sechs Tage lang würde es keine Rolle spielen, was sie anhatte. Sechs Tage lang würde es keine Rolle spielen, was sie tat – außer für Raeburn.
»Lady Victoria.«
Die Stimme des Dukes unterbrach ihre Überlegungen, als hätten ihre Gedanken ihn herbeigeholt. Victoria drehte sich zu ihm um und fühlte sich erröten, war beschämt und irritiert. Ohne Hut und mitten im Unkraut in einem privaten Moment erwischt zu werden, der für niemanden sonst gedacht gewesen war.
Aber da war kein Tadel in seinem Gesichtsausdruck, während er unter der Tür stand. Da waren Begehren und Amüsement und etwas, das wie Traurigkeit oder Neid aussah, aber kein Tadel.
»Ich dachte, ich sehe einmal nach, welche Fortschritte Sie im Garten machen«, bot sie zur Entschuldigung an.
Raeburn nickte und bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. Plötzlich ernüchtert, bückte sie sich nach ihrem Hut und gehorchte. Ihr wurde klar, dass dies das hellste Licht war, in dem sie ihn je gesehen hatte, und sie nutzte die Chance, ihn eingehend zu studieren, während sie den gebotenen Arm nahm und durch die Tür trat. Sein Gesicht wirkte älter als in den düsteren Räumen des Witwenhauses und den sogar noch dunkleren Gemächern auf Raeburn. Tiefe Falten zogen sich die Wangen hinunter, und die Haut auf seiner Nase war rau. So wie er die Sonne mied, hatte Victoria mit einem blassen und für sein Alter glatten Gesicht gerechnet, doch er sah wie ein wettergegerbter Schäfer aus. Seltsamerweise verstärkte es seine eigenwillige Attraktivität, unterstrich den Kontrast zum salontauglichen Gentleman, für den sie ihn gehalten hatte. Sicher, nie hatte einer dieser Herren so starke Arme gehabt oder einen so sicheren Schritt. Doch er ließ sie sich weder klein noch schwach vorkommen, sondern spornte sie an, als sei seine Vitalität Herausforderung und Inspiration, die ihn sowohl als Mann wie als Mensch anziehend machte. Die Entdeckung hätte sie beunruhigen sollen und würde es auch, wenn sie nachher darüber nachdachte. Aber im Moment schwebte sie in einer Seifenblase aus Gelassenheit, die sie nicht so schnell wieder kaputtstechen wollte.
Sie gingen Seite an Seite durchs Haus. An der Vordertür blieb sie stehen, um ihre Hutbänder ordentlich zuzubinden.
»Nein«, sagte Raeburn und nahm ihr den Hut weg. »Ohne gefallen Sie mir besser.«
Victoria wollte schon protestieren, hielt inne und überlegte es sich anders. Es war lachhaft, sich wegen einer kleinen Unschicklichkeit aufzuregen, während diese
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